: Für die Aura muss geschuftet werden
„Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der gotischen Kathedralen ist“: Ein Rundgang über die Internationale Automobilausstellung, zwischen aufgehübschten Verkaufsständen und avancierten Überbauproduktionen – mit Roland Barthes’ Buch „Mythen des Alltags“ im Handgepäck
von DIRK KNIPPHALS
Fahren allein reicht nicht. Die Argumente, ein Auto zu kaufen, die die Werbung anbietet, haben mit Fortbewegung jedenfalls nur an zweiter Stelle zu tun. Es geht um Spaß, um Liebe, um ästhetischen Genuss, um Erzeugung von Aufmerksamkeit und um Flexibilität in Sachen Lebensgestaltung (bei Familienwagen). Den Spot, der Manager von Automobilausstellungen das Herz höher schlagen lassen müsste, hat Ford drehen lassen; der Werbefilm behauptet, dass man automatisch staunend weite Augen kriegt, wenn man nur in ein Modell dieser Marke hineinblickt. So müsste es auch auf Messen zugehen!
Dieses allgemeine Fasziniertsein kann man aber nun nicht recht bestätigen, wenn man sich in diesen Tagen auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt auf den neuesten Stand bringen will. Es geht dort sehr viel handfester zu. Ein ästhetisch distanzierter Genuss von Innenraum und Chassisformen reicht dem Publikum nicht; man schaltet sehr schnell auf einen prüfenden Blick um, der gerne von einem wischenden Berühren des Autos begleitet wird. Weshalb die ausgestellten Modelle ständig nachgewienert werden müssen.
Und sowieso wollen sich alle selbstverständlich reinsetzen in die Autos, am liebsten natürlich auf den Fahrersitz. Dort wandert der Blick dann wie automatisch nach unten, in Richtung Sitzverstellung und Armaturen. Das machen wirklich alle so: anstehen, einsteigen, sofort nach unten gucken. Man will offenbar als Erstes die Instrumente sehen, die einem die Kontrolle ermöglichen, und die Spielzeuge wie Stereoanlage und Navigationscomputer, die inzwischen auch viele Modelle haben.
Während die Werbesprüche einen aus souverän distanziertem Anstand urteilenden Ästhetikexperten konstruieren, gehen die meisten Messebesucher schnell in den Nahkontakt. Insofern hat der Besuch auf der IAA, muss man sagen, auch seine enttäuschenden Seiten. Es geht hier wirklich nur um Autos. Sieg des Realitätsprinzips also.
Dabei erzählt einem nicht nur die Werbung anderes, unsereiner hat es auch anders gelernt. Roland Barthes etwa hat 1956 in „Mythen des Alltags“ einen Absatz geschrieben, der einen für ein ganzes geisteswissenschaftliches Studium entschädigen kann: „Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine damit: eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet.“ Roland Barthes’ Büchlein ist, schöner Zufall, kürzlich vom Suhrkamp Verlag neu aufgelegt worden.
Nun findet man allerdings zwar in diesen Tagen in Frankfurt jedes einzelne Element des Absatzes wieder – die Leidenschaft unbekannter Künstler, die sich über Kabelstränge und Stoßdämpferkonstruktionen beugten, die Zurüstung und Aneignung durch das Volk –, aber das ganze Zitat kriegt man dann doch nicht mehr zusammen. Das mag an der Massivität an Reizen liegen, denen man ausgesetzt ist. Wenn man schon Andacht assoziiert, dann müsste das ein ziemlich lauter Popgottesdienst sein. Wahrscheinlich ist das Auto seit Barthes’ Zeiten – in denen der Motorisierungsgrad noch weit niedriger war als heute – auch ein viel zu alltäglicher Gegenstand geworden, um noch mit den dem Alltag gerade enthobenen Kathedralen zu konkurrieren.
Es kommt noch etwas hinzu. Wer an Trends glaubt, könnte auf dem Frankfurter Messegelände meinen, dass es derzeit eine unübersehbare Fülle davon gäbe. Einen Trend zu Familienwagen und zu Sportwagen, zu immer größeren und zu immer kleineren Wagen, zu bunten Spaßautos und zu dicken Erhabenheitskarossen, zu alltagstauglichen Geländewagen und zu geländetauglichen Alltagswagen – es ist wirklich nicht zu fassen. Das Angebot, so viel wird einem auch als Laien klar, differenziert sich immer verzweigter aus; von der einen Kathedrale, die das Volk eint, kann keine Rede mehr sein, ein jeder parkt seinen kleinen Hausaltar beziehungsweise seine ausgewachsene Hauskapelle (VW Phaeton, Audi A8, Mercedes S-Klasse o. ä.) in der Garage.
Das heißt aber, das allgemeine Anbetungsobjekt, das bei Roland Barthes noch durch den damals revolutionären Citroën DS repräsentiert werden konnte, ist ins Abstrakte gerutscht; wer vermag schon so viel Fantasie aufzubringen, in der Autobranche insgesamt ein magisches Objekt zu sehen? Selbst wenn man bei Schröder-Reden gelegentlich den Eindruck hat und es gesamtwirtschaftlich möglicherweise sogar tatsächlich so wirkt.
Vielleicht sind es deshalb die beiden Marken, die noch für ganz Deutschland stehen wollen – VW und Mercedes nämlich (BMW ist zu bayerisch, Porsche zu klein, Ford und Opel zu international) –, die sich auf der IAA die größte Mühe geben. Die meisten Hallen sehen aus wie multimedial etwas aufgemotzte Präsentationsflächen von verschiedenen Autohäusern, die aus irgendeinem Grund nebeneinander gelegt wurden, das betrifft Mazda, Renault, Volvo, Kia und die anderen. Die Halle 3.0 aber, die des VW-Konzerns, ist mit immensem Aufwand gestaltet.
Monitore tanzen auf tausend Plateaus. Manchmal hängen Artisten lächelnd an Bändern von der Decke herunter. Die Lichtregie müsste einen Robert Wilson vor Neid erblassen lassen. Und wie im Zentrum der Halle, wo die Fahrzeuge der Konzernmutter stehen (Audi, Skoda und Seat drängen sich respektvoll an den Rand), ein zugleich Geschlossenheit und Offenheit suggerierender Ort geschaffen wurde, hat das geradezu etwas von einer Musterlösung. Die Autokonzerne sind ja sowieso ihrem eigenen Anspruch nach gut darin, Widersprüche zu versöhnen, etwa zwischen Geschwindigkeit und Sicherheit, Kreativität und Effizienz und dergleichen. In der Halle 3.0 erledigen helle Stoffbahnen, die in fünf Meter Höhe im Rund angebracht sind, diesen Job.
Man muss eine Weile die Interaktion zwischen Publikum und Ausstellungsort auf sich wirken lassen, dann geht es einem auf: Was zu Beginn des Rundgangs durch die IAA als Gegensatz erschien – die Werbesprüche auf der einen, das handfeste Publikum auf der anderen Seite –, das erlebt man hier als ständigen, ineinander verwobenen Kampf. Das Publikum will unwillkürlich nah an die konkreten Autos ran, die Ausstellungsdesigner aber geben alles, um ihre Aufmerksamkeit vom einzelnen Gebrauchsgegenstand ab- und auf das abstrakte Ganze, die Marke, umzulenken.
Es ist ein Kampf zwischen Tauschprinzip (was krieg ich für mein Geld?) und Auratisierung. So sehr die Hostessen auch lächeln, wenn sich wieder jemand wirklich in ein Auto setzt, anstatt die allgemeine Idee VW zu würdigen: Jeder handfeste Kontakt mit dem Produkt ist im Grunde genommen eine Niederlage des Ausstellungskonzepts. Diese Halle will nicht Autohaus, sie will tatsächlich Kathedrale sein (wenn auch keine gotische).
Getoppt wird VW nur noch von DaimlerCrysler, deren Halle vollends so aussieht, als hätten die Designer Roland Barthes nicht nur gelesen, sondern auch zu bebildern versucht. Über viele Rolltreppen musst du gehen, dann schreitet man in einen allmählich sich senkenden Bogen – ungefähr so wie beim New Yorker Guggenheim-Museum – an den Fahrzeugen entlang. Dabei säuseln Sphärenklänge aus den Lautsprechern. Und tiefe Männerstimmen dröhnen Sätze, in denen die Keywords „Idee“ und „Vision“ lauten.
Die Botschaft ist klar: Mercedes will sich nicht einfach als Autobauer, sondern als Projekt verkaufen. Und dabei setzt der Konzern auf die ganz großen Erzählungen. Es ist nichts Geringeres als gleich die menschliche Fantasie und Erfindungsgabe als Ganzes, die dieser Konzern zu verwirklichen hilft. Die Autos selbst verschwinden fast hinter diesem Überbau, sogar das in den Vorberichten heiß gehandelte Wahnwitzauto SLR. Hier soll nicht mit Fortbewegungsmöglichkeiten gehandelt werden, hier will sich das Auto tatsächlich als große Schöpfung der Epoche feiern.
Nachdem man die Halle wieder verlassen hat, muss man sich erst einmal die Augen reiben, was nicht nur am Tageslicht liegt, das nach der von der Außenwelt abgeschotteten Präsentation wieder in die Augen fällt. Die Frage ist, wo die Wahrheit auf dieser IAA liegt. In den aufgehübschten Verkaufsständen oder im avancierten Überbaukonzept? Man weiß es auch beim Nachhausegehen noch nicht. Nur so viel: In der Mercedes-Halle kann man sehen, wie viel Inszenierungsarbeit geleistet werden muss, um sich als höheres Projekt zu präsentieren. Das Ganze hat etwas Angestrengtes. Für diese Kathedrale muss ganz schön geschuftet werden.
Ein Wort noch zum neuen Golf: Lassen Sie sich nichts vormachen – sieht genauso aus wie der alte Golf, nur ein bisschen anders.