Der Maiswurzelbohrer kommt

VON HANNA GERSMANN

„Sein Haupteinfallstor ist Ungarn.“ „Er steht in Frankreich.“ „Er kommt über die Alpen aus Italien.“ Die deutschen Bauern hören in diesen Tagen immer wieder von einem neuen Feind: dem Maiswurzelbohrer. „Die reden alle so, als rücke eine Front näher“, erzählt Bauer Günther Völker aus dem nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück. Der 61-Jährige mit dem 35 Hektar großen Hof hat zum ersten Mal auf einem Infoabend seiner Landwirtschaftskammer über die gefräßigen Käfer gehört. Mittlerweile hat er mehrere Artikel in Fachblättern gelesen. Es ist immer dasselbe: Ein militärisches Szenario wird aufgebaut.

Grausam muss sie demnach sein, die Seele von Diabrotica virgifera virgifer. Grausam und rücksichtlos. In Armeestärke erobert der Käfer die Felder mit den nahrhaften gelben Kolben, macht die Kornkammern der Welt platt. Ein zerstörerischer Feind, dabei nur einen halben Zentimeter groß und mit seiner gelb-orange Färbung eigentlich ganz hübsch. Weltweit hat er etwa 20 Millionen Hektar befallen. Das entspricht ungefähr der Fläche der alten Bundesrepublik. Mit 13,5 Millionen Hektar sind dabei die USA besonders stark betroffen. In Deutschland kommt er noch nicht vor. Doch ist er im Elsass von der deutsch-französischen Grenze nur noch vier Kilometer entfernt. Fast „stündlich“ könne er einfallen, warnt jetzt die Biologische Bundesanstalt. Man müsse vorbereitet sein. Die Republik rüstet auf.

Bauer Völker kennt sich bereits aus. Die Geschichte der Eroberung hat er mehrfach gehört. Sie beginnt in den USA und geht so: Es war 1867, als das zähe Biest im US-Bundesstaat Kansas auftauchte. Von dort breitet es sich auf den gigantischen Kornfeldern im Norden aus. Heute verursacht der Käfer dort jedes Jahr Schäden von etwa einer Milliarde Dollar. Genauer gesagt: die Larven des Insekts. Sie zerfressen die Wurzel, der lange Stängel kippt einfach um. Kein Häcksler kann dann noch die Kolben fassen. Die erwachsenen Käfer sind dagegen fast harmlos, ernähren sich vor allem von Pollen. Gut hundert Jahre blieben die europäischen Bauern von den krabbeligen Eltern und ihren Larven verschont. Bis 1992.

Plötzlich taucht der „Eine-Milliarde-Dollar-Käfer“, wie ihn die Amis nennen, neben einer amerikanischen Luftwaffenbasis bei Belgrad auf. Mitten im Balkankrieg. Das Transportmittel: vermutlich ein Flieger. Schließlich sind in den USA viele Flughäfen von Maisfeldern umgeben. Wenn die großen Transportflugzeuge dort beladen werden, stehen ihre Türen lange Zeit offen. Der Käfer steigt bequem zu. 1999 tummelt sich der „Jet-Set-Beetle“ schon auf dem ganzen Balkan. Im Jahr 2000 erreicht er die Schweiz am Flugplatz Lugano-Agno. Im Sommer darauf zählen Forscher im Land des Appenzellers gut 1.700 Käfer, ein Jahr später schon doppelt so viele. Derweil landen die ersten Exemplare am Flughafen Paris-Orly, dann in Basel/Mulhouse, London-Heathrow und Amsterdam-Schiphol. Der Maiswurzelbohrer breitet sich rasant aus: 40 bis 80 Kilometer jedes Jahr. Mittlerweile fährt er auch Zug und Auto.

„Die Zukunft der deutschen Landwirtschaft steht auf dem Spiel!“, hört Völker bei der Landwirtschaftskammer. In der Bundesrepublik werden immerhin 1,5 Millionen Hektar Mais angebaut. Vor allem die Monokulturen in der Rheinebene, in Bayern oder in Norddeutschland seien für die Maiswurzelbohrer im wahrsten Sinne des Wortes ein gefundenes Fressen. Die deutschen Bauern müssten jedes Jahr mit Schäden von 25 Millionen Euro rechnen. Völker: „Das macht den meisten Angst.“

Deutschland befindet sich in Lauerstellung: Egal ob Flughafen Rhein-Main, Düsseldorf International oder große Autobahnen – überall sind bereits Fallen aufgestellt. Die Duftstoffe darin sollen den weltweit wohl bedeutendsten Maisschädling anlocken, sobald er Deutschland irgendwo geentert hat. Jede Woche einmal schauen die Experten der Bundesländer nach. Und weil nach dem Pflanzenschutzgesetz im Südwesten Deutschlands „Gefahr in Verzug“ ist, dürfen die Agrokonzerne wie Bayer CropScience schon mal den Ernstfall proben – und ihre besonders giftigen Mittel. In der Region Baden tränkte ihre laut Pressemitteilung „mobile Einsatzgruppe“ die Maissaat dieses Jahr vorsorglich in einer Lösung mit Insektiziden. Diese Beize, wie das Experten nennen, soll die wachsende Pflanze vor dem Schädling schützen. „Wer nicht handelt, dem droht dasselbe Schicksal wie in Ungarn“, lautet die Warnung für Völker auf dem Infoabend. Dort sei die Maisproduktion bereits zusammengebrochen.

Völker ist beunruhigt. Zufälligerweise kennt er aber einen landwirtschaftlichen Berater auf dem Balkan. Ruft ihn an. Der Maiswurzelbohrer? „Noch nie gehört“, sagt ihm der Mann an der anderen Seite der Leitung. Der rot-braune Fingerkäfer mit seinem zwei kräftigen Grabbeinen, der bereite Probleme, ja. Aber mit ihm habe man sich bereits arrangiert, ziehe kleine Gräben um jedes Feld. Da fielen die Schädlinge hinein – und kämen nicht mehr heraus.

Alles doch gar nicht so schlimm? Völker ist verblüfft. „Der Experte von Bayer CropScience redete, als gehe es um Pest und Cholera.“ Der Experte, das war Manfred Kern. Er zieht derzeit von einer Infoveranstaltung zur nächsten über die Lande. Er sagt: „Wir wollen nicht dramatisieren, wir klären nur auf – eine reine Vorsichtsmaßnahme.“ Keiner wisse, ob der Maiswurzelbohrer in Schach gehalten werden könne. Auch wenn er ein Verwandter des berüchtigten Kartoffelkäfers sei. Dieser verdankt seinen Namen seiner Lieblingsspeise und schreckte die deutschen Landwirte besonders während des Zweiten Weltkrieges. „Den“, erklärt Kern, „haben wir heute zwar im Griff, ausgerottet ist aber auch er nicht.“ Kern gibt sich als ein Mann ganz im Dienste der Bauern. Er verliert kein Wort darüber, dass sich die Einwanderung für seinen Konzern durchaus lohnen würde. Sie könnten ihre Insektizide massenweise verkaufen. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Agra-Europe steht: „Für die Pflanzenschutzmittelhersteller könnte der Schädling einen lohnenden Markt öffnen.“

Als der Käfer letztes Jahr erstmals im Elsass gesichtet wurde, stiegen gleich mehrere Hubschrauber in die Luft – und versprühten 1,5 Tonnen des Gifts „Karate“. Hinter dem schlagkräftigen Namen verbergen sich die besonders giftigen Pyrethroide. Beim Menschen lösen sie Übelkeit, Herzrasen und Atembeschwerden aus. Aus der Region kamen damals hunderte zusammen, spannten Regenschirme auf und demonstrierten so gegen die Giftdusche. „Das war wie eine militärische Abwehrschlacht“, beklagt Axel Mayer, Geschäftsführer des BUND Freiburg. Um die Invasion der Käfer zu bekämpfen, werden schwere Geschütze aufgefahren.

Die Agrokonzerne haben ihrer Ansicht nach allerdings schon längst die schlagkräftigste Waffe entwickelt: die Gentechnik. „Zumindest versuchen sie nun, die Bauern davon zu überzeugen“, erzählt Völker. Der US-amerikanische Konzern Monsanto hat Mais bereits derart im Genlabor verändert, dass er ein Gift produziert, welches die Darmwand der Insekten zerstört. In den USA wird dieser so genannte BT-Mais schon seit dem letzten Jahr angebaut. Doch wollen bisher 70 Prozent der deutschen Landwirte nichts wissen von diesen Hightech-Pflanzen. Völker: „Es sei denn, sie kommen durch die Hintertür.“ Der Maiswurzelbohrer aus dem Gepäck der US-Armee könnte deshalb zum Vorzeigeprojekt werden. Und: Den Biotechnologen in Deutschland könnte der Durchbruch gelingen.

Christoph Then, Gen-Experte bei Greenpeace, ist verärgert: „Es handelt sich um ein aus Amerika importiertes Problem, für das US-Unternehmen nun angeblich eine Lösung haben.“ Der Bayer-CropScience-Experte Kern hält freilich dagegen, dass sich niemand über den Schädling freue: „Er kann zu große Schäden in der deutschen Landwirtschaft anrichten.“

Bestimmt. Trotzdem verwundert viele die militärische Planung, um den Einwanderer abzuwehren. Offenbar lässt er sich nämlich auch ohne Gift und Gentech vertreiben. Und zwar mit der guten alten Fruchtfolge. So haben sich zumindest Schweizer Bauern gewehrt. Statt jedes Jahr auf demselben Feld wieder Mais anzupflanzen, haben sie zunächst Getreide und dann Gras ausgesät. Das schmeckt dem Maiswurzelbohrer nicht: Im Herbst legt das Weibchen bis zu 1.000 Eier in den Maisacker. Die Larven, die dann nach dem Winter schlüpfen, finden aber nur noch Gerste oder Weizen. Weil sie dieses Getreide verschmähen, verhungern sie. Das funktioniert mindestens so lange, wie sie sich nicht an die Diät gewöhnen oder einen neuen Geschmack entwickeln. Biobauern machen sich solche Mechanismen schon immer zu Eigen – „und dämmen so auf natürliche Weise lästige Insekten und Pflanzenkrankheiten ein“, erklärt der Chef des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft, Felix Prinz zu Löwenstein.

Doch die konventionell arbeitenden Kollegen mögen die Fruchtfolge zumeist nicht: Sie wollen Mais, Mais und nochmals Mais. Nicht nur weil ihre Rinder ihn verschlingen. Sondern weil er mit besonders viel Subventionen bedacht ist. Das lohnt sich für die Bauern. Noch. Aufrüsten wird mit Sicherheit teuer.