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Archiv-Artikel

„Wir Ossis haben uns etwas vorgemacht“, sagt Hans-Joachim Maaz

Die Ostdeutschen nehmen sich ihre eigene Naivität übel. Demonstrieren ist leichter als Selbsterkenntnis

taz: Herr Maaz, auch in Ihrer Heimatstadt Halle gab es eine Montagsdemonstration gegen Hartz IV. Waren Sie dabei?

Hans-Joachim Maaz: Nein. Ich bin ein bisschen zwiegespalten. Wenn es den Demonstranten darum geht, über den Zustand unserer Gesellschaft nachzudenken, sympathisiere ich. Wenn es aber nur um die Urlaubsreise geht, die man sich nicht mehr leisten kann, finde ich das hochnotpeinlich.

Der Protest hat ein ostdeutsches Gesicht. Woran liegt das?

Einerseits ist die Arbeitslosigkeit im Osten größer. Damit sind hier natürlich auch die realen Probleme größer, die mit der Umsetzung von Harz IV entstehen. Anderserseits gibt es seit der Wende eine täglich ansteigende Ernüchterung. Ich nenne das die Westpaket-Mentalität: Begrüßungsgeld, blühende Landschaften oder Sprüche wie: „Keinem wird es schlechter gehen“ haben zu der naiven Einstellung geführt, wir – die Westdeutschen – machen das schon für euch. Ihr braucht euch nur an das westdeutsche Leben anzupassen. Das hat Abhängigkeit und Untertanengeist weiter gestärkt. Gegen dieses Syndrom vorzugehen wäre ein psychosozialer Reifeprozess gewesen. Den hat es im Osten nicht richtig gegeben. Stattdessen hat sich große Enttäuschung breit gemacht. Hartz IV hat jetzt das Fass zum Überlaufen gebracht.

Saubere Flüsse, bessere Straßen, restaurierte Städte – es gibt sie doch, die blühenden Landschaften. Warum zählt das nicht?

Der Mehrheit der Menschen geht es heute tatsächlich besser, und sie weiß das auch zu schätzen. In dieser Gruppe hat sich aber eine latente Unsicherheit gehalten: Werde ich bestehen im Konkurrenzkampf? Ist meine soziale Stellung tatsächlich gesichert? Und dann gibt es die andere Gruppe: Bestimmt jeder Vierte ist eben nicht angekommen im vereinigten Deutschland. Diese 25 Prozent können nicht sehen, wie schön Quedlinburg heute ist. Diese Gruppe sieht nur, wie viel Arbeitslosigkeit es dort gibt.

In Gelsenkirchen ist die Arbeitslosigkeit ähnlich hoch. Warum geht dort kaum jemand zur Montagsdemo?

Die akute Kränkung ist dort nicht so groß. Wir Ostdeutschen waren besonders naiv, glaubten, mit der Eingliederung in die Bundesrepublik wird automatisch alles gut. Heute weiß man das natürlich besser. Und man muss sich seine eigene Naivität heute übel nehmen. Weil es aber wehtut sich einzugestehen, wie blöde man war, ist es leichter, gegen Hartz zu demonstrieren. Außerdem: Es gibt in Ostdeutschland – anders als in Gelsenkirchen – keine Tradition im Umgang mit Arm und Reich. Durch Hartz IV wird diese Diskrepanz jetzt erstmals richtig spürbar. Das trifft die Menschen hart.

Was genau ist – psychologisch gesehen – der Antrieb der Demonstranten?

Eine Gefühlsfrage: Ich will, dass es mir gut geht, dass jemand an mich denkt. Wenn das nicht der Fall ist, verschließt man sich, man macht zu, verzerrt die Wahrnehmung. Die Folge: Man muss trauern. Und gegen diese Trauer kommt nur an, wer sich für bessere Konzepte engagiert. In sozialen Krisenzeiten besteht aus diesem Grund immer das Risiko, dass politische Rattenfänger Erfolg haben, die Leute schließen sich einer einfach gestrickten Ideologie an.

Schröder in die Spree!, skandieren die Demonstranten. Meinen Sie so etwas?

Ja. Das regt mich besonders auf, weil es schon wieder besonders naiv ist: zu glauben, das eine CDU-Regierung alles besser kann. Tatsächlich gibt es zu den geplanten Einschnitten kaum Alternativen. Die Idee eines ständigen materiellen Wachstums hat sich genauso als Utopie erwiesen wie der Sozialismus. Viele wollen das nicht wahrhaben. Hinter Slogans wie „Schröder in die Spree!“ liegt die Einstellung: Es liegt nur an der Obrigkeit, was mit einem passiert, nicht an einem selbst. Wirklich heilsam wäre aber Selbstkritik: Wir Ostdeutschen haben uns was vorgemacht.

Die politisch Verantwortlichen schüren den Drang, Verantwortung zu delegieren: Schuld ist der Westen. Ist das klug?

Aber sie haben doch Recht: Ostdeutsche Probleme spielen im politischen Raum keine Rolle mehr. Die Politik muss erkennen, dass sich die Proteste nur vordergründig gegen Hartz VI richten. Ob die Auszahlung nun Anfang oder Ende Januar geschieht, ist für den Einzelnen sicherlich wichtig – nicht aber für das Gesamtproblem. Einfache symptomatische Lösungen helfen nicht weiter. Diese Proteste sind tatsächlich ernste Anzeichen einer sozialen Krisenzeit. Im Grunde genommen geht es um einen kritisch gewordenen Konflikt zwischen Profitinteressen und Menschenwürde. Insofern halte ich solche Äußerungen für wichtig.

Wenn Sie sich die Sozialisation des Protestes ansehen: Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede sehen Sie zwischen heute und 1989?

Aus psychologischer Sicht gibt es viele Ähnlichkeiten – es geht heute wie damals um Kränkungen und Wut. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die, die heute „Wir sind das Volk“ rufen, vor 15 Jahren „Wir sind ein Volk“ skandierten. Statt sich über ein eigenes Gesellschaftsprinzip Gedanken zu machen, ging es diesen Demonstranten damals um ein schnelles Ankommen im westdeutschen Leben.

INTERVIEW: NICK REIMER