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Archiv-Artikel

Rotkäppchen-Kapitalisten

DAS SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER

Die Übertragung aller Muster West auf den Osten war eine logistische Spitzenleistung – und Wahnsinn

Jetzt waren es 30.000 in Leipzig. Dabei sahen die 10.000 vor zwei Wochen schon aus, als ob eine ganze Stadt unterwegs ist. Kamen so viele überhaupt zu den Montagsdemonstrationen vor fünfzehn Jahren? Im historischen Gedächtnis wird es die Montagsdemos von nun an doppelt geben.

Und was machen wir mit dem symbolischen Gehalt dieser Umzüge? Nikolaikirchen-Pfarrer Christian Führer wiegelt ab: Vor fünfzehn Jahren durften wir nicht demonstrieren und haben es trotzdem gemacht, heute haben wir das Demonstrationsrecht, und nun sollen wir zu Hause bleiben? Klingt plausibel. Aber das ist nur die demokratisch-beschwichtigende Oberflächenbeschreibung des Phänomens. Darunter beginnen die vulkanischen Tatsachen.

Wahrscheinlich ist es kein Trost für den Bundeskanzler und seinen Wirtschaftsminister, aber Honecker ging es im Herbst 89 genauso. Er hatte mit solchen Demos auch nie gerechnet. Schon wegen der Metaebene. Erich Honecker konnte sich nicht vorstellen, dass Arbeiter und Bauern gegen einen Arbeiter- und-Bauernstaat auf die Straße gehen. Er überlegte lange, ob er die Demos nicht zusammenschießen lassen sollte, und wurde nur durch seine Absetzung in diesen Erwägungen unterbrochen. Man hat sich angewöhnt, in diesen militanten Neigungen Indizien für gewöhnliches Verbrechertum zu erblicken, und verfehlt dabei gerade das Interessanteste: Erich Honecker wollte gar nicht das Volk erschießen lassen. Das da auf der Straße mussten Aufwiegler und Verführte sein!

Jeder weiß, dass das Denken nicht die Stärke der Partei- und Staatsführung war. Und irgendwann wird natürlich auch die Dummheit kriminell. Außerdem lebten die Kommunisten in einem quasireligiösen Bewusstsein, und religiöse Weltbilder sind strukturell unwiderlegbar. Bemerkenswert aber ist, dass nicht nur Kommunisten, sondern die meisten Menschen – und Politiker besonders – Metaebenen-Denker sind. Sie haben abstrakte Weltbilder. Abstrakte Weltbilder sind immer gut aufgeräumt, und bestimmte Dinge kommen darin einfach nicht vor: etwa Montagsdemos anno 2004. Dabei hat die Bundesrepublik Leipzig doch zur „Heldenstadt“ ernannt. „Heldenstadt“ – ein Temperament, das solche Auszeichnungen vergibt, hatte man eigentlich nur der DDR zugetraut. Und wer sind die neuen 30.000 Leipziger Helden? Auch Aufgewiegelte? Verführte?

In der DDR war es ganz leicht, ein Feind des Volkes zu werden. Nach 1990 war es ganz leicht, ein Feind der Freiheit zu werden. Aber da dieses Land mehr Kultur besitzt als die rüde DDR, formuliert es auch seine Verdächtigungen feiner: Vielleicht hat man die Freiheit noch nicht richtig verstanden? Dabei ist „die Freiheit“ natürlich selbst als Abstraktum viel schöner als „das Volk“. Man würde ihr viel lieber die Schleppe tragen als dem Volk. Aber ein Abstraktum ist die Freiheit doch. In Leipzig und anderswo stürzt gerade das Abstraktum der Freiheit.

Vor wenigen Dingen haben die Menschen solche Angst wie vor der Freiheit. Gerade die Verkündiger der Freiheit, meist Politiker. Sie geben das nur nicht zu. „Was, Sie sind – frei?“, rufen sie mit einem Ausdruck aufrichtigen Entsetzens im Blick, und du siehst dich im Spiegel ihrer Augen ins Bodenlose fallen. Das ist der Spiegel der gesellschaftlichen Anerkennung. Bis eben hielten sie ihr Gegenüber noch für eine Art verhinderten Chefredakteur, und nun das. Manchmal versuchen sie ein Das-hätte-ich-aber-nicht-gedacht, das anerkennend gemeint ist. Aber sie schauen jetzt anders: Wer frei ist, muss irgendwie krank sein. Warum nicht die eigene Freiheit verleugnen? Wozu sich und andere in Verlegenheit setzen? Das also ist die Freiheit: eine Verlegenheit. Und der freie Autor ist der entlaufene Hartz-IV-Fall unter den Journalisten. Denken die Unfreien.

Im Alltagssinn der Menschen verrät sich, dass die Freiheit wie die Wahrheit immer konkret ist. Und dass der freie Autor doch etwas sehr anderes sein könnte als ein freier Mann. Freiheit ist eine Freiheit von etwas. Und eine Freiheit zu etwas. Wenn sie wirklich eine ist, ist sie auch eine Last. Für zu viele im Osten wurde Freiheit etwas, womit sie nie gerechnet haben, weil sie es wie die wirkliche Freiheit gar nicht kannten: eine leere Unendlichkeit. Eine Aneinanderreihung von Tagen, an denen man älter wird. Und sonst passiert eigentlich nichts mehr. Man fühlte es, aber es war unmöglich, das politisch korrekt zu sagen. Also machte die neue Freiheit stumm, wie vorher die Diktatur.

Die Ostler bekamen auch eine neue Identität, mit der sie nie gerechnet hatten: Sie wurden Verbraucher. Vielleicht ist das die apokalyptischste aller Identitäten. Natürlich, früher in der DDR hätte man gern mehr verbraucht. Vor allem nach der Arbeit. Man kann eben nicht alles haben. Entweder Arbeiter oder Verbraucher. Die Welt ist voller falscher Alternativen – das schien die Lehre nach 89 zu sein. Und jetzt soll also auch noch die Verbraucheridentität wegfallen.

Die Welt ist voller falscher Alternativen: Das schien die Lehre nach 89 zu sein

Aber warum gibt es in Polen, Tschechien, Ungarn oder Russland nicht solche Demos wie in Deutschlands Osten? Die haben ja nicht einmal Hartz IV, antwortet sofort der Zyniker im freien Autor. Doch die Sache geht tiefer. Was mit diesen Ländern geschah, kam aus ihnen selbst. Dass Deutschlands Osten nach dem kurzen Herbst vor fünfzehn Jahren wieder ruhig gestellt wurde, nur Zuschauer sein durfte, passiv oder gar nicht – das ist die eigentliche Katastrophe dieser Jahre. Die Übertragung sämtlicher Muster West auf den Osten war eine logistische Spitzenleistung und kompletter Wahnsinn zugleich.

Der Ostler schaffte es einfach nicht, Kapitalist zu werden. Ihm fehlte eine elementare Voraussetzung: das Kapital. Deshalb blickte die Treuhand die „Rotkäppchen“-Mitarbeiter vor fast fünfzehn Jahren an wie Außerirdische, als sie ihre marode Sektkellerei selbst kaufen wollten. Ein nicht ganz unbekannter Autor fand kürzlich folgenden Vergleich: Was mit der Ex-DDR geschah, ist so, als hätten die USA nach dem Krieg ihre Marshall-Plan-Millionen den eigenen Konzernen gegeben und gesagt: Guckt mal nach, was ihr in dem kaputten Land da drüben gebrauchen könnt. Die erste Reaktion auf diese Parallele war Abwehr. Aber ist sie wirklich so falsch?

„Rotkäppchen“ hatte 1990 das klassische Rotkäppchen-Problem: Ich lass mich nicht vom Weg abbringen! 1993 gab die Treuhand nach – gegen jede Treuhand-Vernunft. Sechzig Prozent der Anteile hält seitdem die Geschäftsführung – vierzig Prozent bekam die Familie Eckes-Chantré. Wegen der Sicherheit. Denn die Treuhand fand, dass unter den neuen Eigentümern jemand mit Geld sein sollte. In der Folgezeit ließ Rotkäppchen, das Kind aus dem Osten, die Korken knallen und wurde immer größer. Nun ist Rotkäppchen schon mit dem Wolf zusammen, schluckte „Mumm“, „Jules Mumm“ und „MM“ und ist auf dem Weg zum deutschen Marktführer. Ein uriger Kapitalist. Und das alles mit dem Erbe der DDR: einer Sektkellerei, in der man aufpassen musste, dass die Flaschen nicht von den Bändern fielen, wenn sie um die Ecke bogen. Leider gab es nicht viele solcher Nachwende-Märchen wie das vom Rotkäppchen. Sonst liefen heute nicht 30.000 durch die „Heldenstadt“ Leipzig.

Fotohinweis: Von Kerstin Decker erschien gerade „Oscar Wilde für Eilige“ (Aufbau)