Tendenz schwankend

Wie Lenin einmal auf dem Oktoberfest in den Rausch der Weltpolitik geriet

„Bei den meisten Bayern vollständiges Fehlen einer eigenen Linie“

Am 29. Januar 1900 endet die Verbannungszeit Lenins. Der Revolutionär und seine Gefährtin Krupskaja verlassen das sibirische Dorf Schuschenskoje und fahren in den europäischen Teil Russlands. Nach der entbehrungsreichen Zeit sehnt sich der zechfreudige Theoretiker der Arbeiterbewegung nach einem frisch gezapften Bier. Da trifft es sich gut, dass er am 5. Mai einen Auslandspaß zur Reise nach Deutschland erhält. Lenin zieht es nach München, wo er bis 1902 wohnen wird. Während er in Schwabing fieberhaft an der ersten Nummer der Iskra arbeitet, bereitet sich die bayerische Biermetropole auf den Höhepunkt des Jahres vor – das Oktoberfest, das traditionsgemäß schon im September beginnt. Vielleicht, weil der Bayer es nach dem langen Sommer einfach nicht mehr aushält, weil der Durst einfach zu übermächtig wird …

Als die Wies’n begonnen hat und ganz München in die Bierzelte strömt, kann sich auch der russische Bierliebhaber nicht länger dem Sog des bayerischen Nationalrausches entziehen. Nach seinem ersten Besuch notiert er in sein Tagebuch: „Schon a priori können für die weitere Prüfung und das eingehende Studium drei Hauptgruppen von Oktoberfest-Besuchern vermerkt werden: die Schaulustigen, die Minderheit der Antialkoholiker und die überwältigende Mehrheit der Biertrinker – unbeständige, schwankende und im Grunde ihres Wesens haltlose Elemente.“ Erstaunlich, wie genau Lenin schon damals den grundlegenden Unterschied von Menschewiki und Bolschewiki herausdestilliert. In seinem unstillbaren Wissensdurst besucht er noch mehrmals das Oktoberfest, um das wissenschaftliche Studium vorrevolutionärer Massenbewegungen zu vertiefen.

Nach seinem zweiten Wies’nbesuch notiert er: „Bei den meisten Bayern vollständiges Fehlen einer eigenen Linie. Mehrfach beobachtet, wie zuerst im Hofbräuzelt, dem Hort feudalen Wohllebens, danach im Löwenbräuzelt, der Bierhochburg der imperialistischen Bourgeoisie, mehrere Maß getrunken und anschließend ins klerikal-reaktionäre Augustinerzelt übergewechselt wurde. Das ewige Schwanken zwischen den Lagern, die Angst, offen sein Credo für eine Biermarke abzulegen, ist ein Merkmal opportunistischen Herumtaktierens. Ich selbst trinke Pschorr, das Bier der Avantgarde der bayerischen Sozialdemokratie, und verfolge diesen Kurs mit hartnäckiger und systematischer Parteidisziplin.“ Deutliche Worte an die Adresse des bayerischen Proletariats, das sich Lenins unbestechlichem Urteil zufolge durch einen unverkennbaren „Zickzackkurs“ auszeichnete.

Schon zu Lenins Zeiten lautet die brennendste Frage angesichts der für den Fremden verwirrenden Vielfalt der Bierzelte und bunten Buden: Zuerst Krinoline fahren und dann ins Bierzelt oder umgekehrt? Lenin hat diese Frage in seiner berühmten Schrift „Was tun?“ als Erster gestellt und erschöpfend beantwortet. Geschrieben vom Herbst (!) 1901 bis Februar 1902 in München – dort erarbeitete These, deren Richtigkeit sich auch heute noch alljährlich aufs Neue bestätigt.

Ebenso muss Lenins wegweisende Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“, in der er das ungenügende Fortschreiten der angetrunkenen Massen geißelte und die Tendenz zur Versumpfung der kleinbürgerlichen, schwankenden Elemente schonungslos brandmarkte, heute zu den zeitlos gültigen Wies’n-Analysen gerechnet werden. Das Einzige, was Lenin vor über 100 Jahren noch nicht ahnen konnte: Wies’nhits wie „Anton aus Tirol“ haben für die heutigen Wies’nbesucher doch erheblich mehr Schunkelpotenzial als die Internationale.

RÜDIGER KIND