: Gut geboxt ist halb gewonnen
Hau eins, Hau zwei, Hau drei, Hauruck: Unter dem Namen „Hebbel am Ufer“ wird Matthias Lilienthal ab Ende Oktober drei Berliner Bühnen zusammenführen. Er setzt auf Kunst, die sozialen Anspruch hat, aber frei vom Geruch des Moralischen ist
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Die drei Gesichter auf den Plakaten sind gut durchblutet. Wären sie nicht so jung, man würde sie glatt für Boxer nach dem Kampf halten. Hau eins, Hau zwei, Hau drei steht darüber in klatschendem Rhythmus. Sie hängen über den Türen des Hebbel-Theaters in Berlin, das am 31. Oktober wieder öffnet. Mit Matthias Lilienthal als neuem künstlerischen Leiter und Geschäftsführer.
„Hau“ ist die Abkürzung für „Hebbel am Ufer“, erläutert Lilienthal, Hau eins, zwei, drei meint die drei Spielstätten, die bisher unter den Namen Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer und Theater am Ufer liefen und unter seiner Leitung erstmals zusammenarbeiten. Die Fotos sind in einem Neuköllner Sportverein entstanden. So habe man doch, hofft Lilienthal, gleich ein Bild für die proletarische Tradition von Kreuzberg, an dessen Kante die drei Theater liegen. „Boxen, das hat auch etwas zu tun mit den Verteilungskämpfen in dieser Schröderregierung, wo um einen immer kleineren Kuchen viele Theatermacher kämpfen, aber die Gesellschaft auch entscheiden muss, wie viel gibt sie für soziale Sicherheit aus, wie viel für den Lohn von Spitzenmanagern.“
Das passt. Kaum ist man mit Matthias Lilienthal im Gespräch, schon kommt ein kleiner Schlenker ins Gesamtgesellschaftliche. Damit man immer gleich weiß, dass die Kunst da, wo Lilienthal sich ihrer annimmt, zur Sache kommen will. Den Ausbruch aus dem „Ghetto“ sucht, in dem die Kunst mit Kunst erklärt wird. Das ist ihm schon zweimal ganz erfolgreich gelungen: als Chefdramaturg an der Volksbühne (1991–1998), der den Flug des schillerndsten Schmetterlings, der je aus der Verpuppung der Künste in der DDR hervorbrach, mit vielen flankierenden Maßnahmen unterstützte, und als Leiter des Festivals „Theater der Welt“ (2000–2002), das eine große Breite von Theaterformen nach Köln, Bonn, Düsseldorf und Duisburg brachte. Auf Schiffen, in Wohnungen und Gefängnissen wurde gespielt, Nächte durch Märchen auf Englisch erzählt, lange Passionsgeschichten auf Spanisch mit kurzen deutschen Inhaltsangaben gestützt.
Das klingt nicht nur alles nach Anstrengung, das ist auch so gemeint. Einfach zurücklehnen und so von der Bühne wegkonsumieren, das heben wir uns mal für später auf. „Noch“, sagt Matthias Lilienthal, 43 Jahre alt, „werde ich mir mein Berufsjugendtum erhalten. Das internationale Theater anzugucken, zum Beispiel mit Untertiteln, ist einfach anstrengend. Da braucht man Leute, die dazu Lust haben“, sagt er. Er ist jetzt in der Zielgeraden für die Wiedereröffnung der drei Spielstätten, die kein eigenes Ensemble haben, mit einem schlanken Team von 24 Leuten arbeiten und ein Programm aus internationalen Gastspielen, zeitgenössischem Tanz und Projekten freier Theatermacher aufstellen. Mit 71 Vorstellungen geht es im November los.
Gelernt, die Kunst zu beschützen und Kontakte zu knüpfen, hat Lilienthal als Dramaturg in Basel bei Frank Baumbauer. Da machte er auch zum ersten Mal die Erfahrung mit Theater in einer Fremdsprache: Alle redeten Schweizerdeutsch, nur die Bühne war hochdeutsch besetzt. Kurz hat er auch in Wien gearbeitet und erlebt, wie die öffentliche Empörung über jeden „Furz auf dem Theater“ die Künstler gebauchpinselt hat und im Glauben an ihre Bedeutung stärkte. Was er sucht, wirkt aber oft wie nichts weniger als der Versuch, eine Bedeutung des Theaters, die öffentliche Aufregung wert ist, wieder herzustellen.
Für „Theater der Welt“ ist er viel gereist, auch nach Argentinien, in den Zeiten der Wirtschaftskrise. Berlin heute erinnert ihn manchmal an Buenos Aires. „Wenn ich die Stresemannstraße entlanggehe, sehe ich zwischen dem Hebbel-Theater und dem Anhalter Bahnhof fünfzehn leer stehende Ladenlokale. Dann denke ich, dass die Bundesrepublik den Crash von Argentinien erlebt. Wir sind davon nicht besonders weit entfernt. Auf der anderen Seite machen mich die fünfzehn leeren Läden kampflustig. Da steckt schon wieder eine Idee für ein Location-Projekt drin.“
Doch das erste Projekt in der Stresemannstraße wird im Willy-Brandt-Haus stattfinden, der schicken SPD-Zentrale, die dem Hebbel-Theater gegenüberliegt. „Torero Portero“ von der Gruppe Rimini Protokoll lässt dort arbeitslos gewordene Portiers erzählen. Da weiß man schon jetzt, dass die Performance und die Taten der SPD auf dem Arbeitsmarkt Anlass für die schönsten feuilletonistischen Verbindungen geben werden.
Rimini Protokoll, ein Zusammenschluss der jungen Regisseure Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel, hat Lilienthal auch mit „Deadline“ nach Berlin eingeladen: Ein Stück über den Tod und wie wir uns um ihn herumdrücken. Da tritt ein Grabredner auf, eine Krankenschwester, die in der Sterbebegleitung geübt ist, und ein Mann, der einmal fast gestorben ist. „Diesen Ansatz, Menschen aus der Realität auf die Bühne zu bringen, ein Ready-made-Charakter wie bei Duchamp“, das bleibt für Lilienthal die Spur, die aus der Selbstbezüglichkeit der Kunst führt.
Dennoch hat dieser soziale Anspruch, der die Kunst in Lilienthals Worten fast immer begleitet, nie den Geruch des Moralischen oder Pädagogischen. Es ist zwar eine Form der Legitimierung der Kunst, aber eine, die meistens durchlässig ist dafür, das Ganze auch als Spiel ungeheuer zu genießen. „Niemand schreibt uns vor, was wir machen sollen. Man kann Themen setzen, Definitionen geben. Natürlich ist das ein dekadenter Luxus. Selbst wenn 4,2 Millionen Euro für drei Theater kein großer Etat sind, ist das ein Wahnsinnsgeld.“
Nicht zufällig ist eine der ersten Programmschienen, mit Beiträgen aus Russland, New York und deutschen Gerichtssälen, mit dem Motto „Kunst und Verbrechen“ überschrieben. Alles, was man der Kunst vorwerfen kann – Verschwendung, Asozialität, Täuschung, Provokation –, nimmt sie dort in einer Art Mimikry an; aber letztlich meistens, um damit ihren Lehrmeister im Betrug, die Realität der Gesellschaft, zu überführen.