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Archiv-Artikel

Der Genuss, langsam zu leben

Das Team der Schulkantine kocht inzwischen so gut, dass es die Galadiners des Bürgermeisters ausrichtetWas Bra von anderen Städten unterscheidet, ist die Vielzahl an kleinen und kleinsten Läden

aus Bra SABINE HERRE

Luciano Gobino verkauft schnelle Autos. Was im Land von Ferrari und Fiat eigentlich nichts Besonderes ist. Doch Luciano Gobino ist Geschäftsführer von Alfa Romeo in Bra. Und diese piemontesische Kleinstadt ist so etwas wie Italiens Hauptstadt der Langsamkeit. Slow City nennen sie die Mitglieder der Genießerbewegung Slow Food.

Den Autohändler stört das nicht. Im Gegenteil. Schließlich ist er einer ihrer überzeugtesten Anhänger. „Ja klar, Slow Food, das ist nicht nur wichtig, das ist sehr wichtig für mich. Ach was, für uns alle“! Importantissimo sagt Gobino, und selbst dieser Superlativ scheint ihm nicht auszureichen. „Unser Leben schmeckt doch immer einheitlicher. Slow Food setzt sich dafür ein, dass es wieder Unterschiede gibt.“

Eine verkehrte Welt? Eines der schnellsten Autos in einer der langsamsten Städte? Nein, meint Raffaele Grillo, der Pressesprecher der Stadt. Hier, in den Hügel Piemonts, wo die Dörfer Barolo und Barbaresco heißen und den teuersten Weinen Italiens ihren Namen geben, ging es immer langsam zu. Doch zugleich ist die Region kaum 40 Kilometer von Turin entfernt und eines der dichtbesiedelsten Industriegebiete Italiens. „Bei uns“, so Grillo, „fährt man auch am Tag mit eingeschaltetem Licht. Um nicht übersehen zu werden.“

Die Geschichte der Slow City Bra begann vor vier Jahren. 1999 gründeten vier italienische Städte, Greve in Chianti, Orvieto in Umbrien, Positano bei Neapel und eben Bra einen Verein zur Verlangsamung des Lebens. Der Autoverkehr in den Innenstädten sollte beschränkt, wenn nicht ganz untersagt werden, Lärmpegel sollten gesenkt, Neonreklamen verboten, die Handybenutzung eingeschränkt werden. Und natürlich ging es auch ums Essen, schließlich war Carlo Petrini, der „Erfinder“ von Slow Food, auch einer der Väter von Slow City. Supermärkte wollte man an den Rand der Städte verdrängen, das Gleiche war für McDonalds und andere FastFood-Restaurants vorgesehen. Stattdessen sollten Bauern und Winzer vor Ort gefördert und unterstützt werden. Slow City war so etwas wie die italienische Antwort auf die Globalisierung. Global denken, aber lokal essen.

Die heutige Protagonistin der Slow City Bra heißt Bruna Sibille und ist die Vizebürgermeisterin der 28.000 Einwohner zählenden Stadt. Ihr Arbeitstag verläuft alles andere als langsam. In ihrem kaum zehn Quadratmeter großen Büro im barocken Rathaus-Palazzo klingelt entweder das Handy oder das Festnetztelefon. Eine Sekretärin, die die Gespräche vorsortiert, hat die Bürgermeisterin nicht, jeder kann hier anrufen. Sibille spricht abwechselnd italienisch, englisch oder französisch. In Deutsch hat sie nur zwei Worte parat: Fußgängerzone und Konditorei.

Die haben natürlich mit Slow City zu tun. Die Konditorei, die Pasticceria, ist so etwas wie das ruhige Herz der langsamen Stadt. Im Unterschied zum Rest Italiens, wo man an der Bar nur einen schnellen Espresso nimmt, blieb im einst österreichischen Piemont die Tradition des Wiener Kaffeehauses erhalten. Stundenlang kann man hier bei einem Milchkaffee sitzen und sich Gedanken darüber machen, ob man als Nächstes lieber eine Schokoladentorte oder ein Nusshörnchen bestellt.

Die Fußgängerzonen dagegen sind das größte Problem der Slow City. „Die Italiener tun keinen Schritt ohne ihr Auto, es ist Teil ihrer Existenz, wie soll man da die Innenstadt verkehrsberuhigen?“, versucht Bruna Sibille die Automanie ihrer Landsleute zu erklären. „Daher müssen wir ganz vorsichtig vorgehen. Zuerst sperren wir nur die Straßen nur für ein paar Tage, später dann schon für ein paar Wochen.“

Mit dieser Methode hat es Bra ziemlich weit gebracht. Große kostenfreie Parkplätze wurden am Rande der Innenstadt geschaffen, und obwohl man mit dem Auto weiter durch das Zentrum fahren kann, herrscht dort eine ungewöhnliche Stille. Kein Hupen, keine rasenden Rollerfahrer und an den Zebrastreifen wird ganz ohne polizeiliche Aufforderung gehalten. Es ist so etwas wie eine freiwillige Selbstverpflichtung der Bürger, langsam zu sein. Darüber, ob sie in einer Slow City leben wollen, durften sie nie abstimmen. Allenfalls mit der Stadtverwaltung diskutieren.

Bruna Sibille ist keine Autohasserin und keine Weltverbesserin. Nie würde ihr, die sich auf der linken Seite des politischen Spektrums einordnet, einfallen, eine spezielle Steuer auf Flugbenzin oder für Supermärkte zu erheben. Nein, Sibille ist eine Anhängerin von Prozessen. Alles verändert sich, sagt sie, aber nur nach und nach. Langsam eben.

Besser als jede theoretische Einführung in die Kultur der Langsamkeit ist zudem die praktische Erfahrung. „Wer einmal seine Pizza selbst gemacht hat, verzichtet auf jedes Tiefkühlprodukt“, sagt die Vizebürgermeisterin. „Schmecken lernen“ heißt das im Jargon von Slow Food und mit diesen Geschmackserlebnissen kann man nicht früh genug anfangen. Daher hat Bra die Verpflegung in den Schulkantinen in die eigenen Hände genommen. „Outsourcing von Geschmack lehnen wir ab“, sagt Giusy Gigante, die in der Stadtverwaltung so etwas wie die oberste Vorkosterin ist. Alles, was in Bras Schulen auf den Tisch kommt, ist von ihr geprüft und für gut befunden worden. Gemeinsam mit dem Chefkoch stellt sie für 1.200 Kinder das 8 Euro kostende Dreigängemenü zusammen. Es geht ihr nicht nur um die Qualität der Produkte, sondern auch um die Zubereitung. „Die Nudeln werden in der Zentralküche nicht fertig gekocht, das geschieht erst in den Schulen selbst. Schließlich sollen die Kinder ihre Pasta al dente bekommen“. Doch auch der Thunfisch auf Tomaten, die Gemüsetorte oder die gegrillte Hähnchenbrust mit Zucchini sind restaurantreif. Das 13-köpfige Team der Schulkantine hat sich einen so guten Ruf erkocht, dass es inzwischen auch für die Galadiners und Buffets des Bürgermeisters zuständig ist.

Allerdings – auch ohne Slow Food wären die Kinder von Bra nicht gerade ungeschützt den Versuchungen des Fast Food ausgeliefert. McDonalds und Co haben bis heute in Italien nie richtig Fuß fassen können. Da die Jugendlichen die Pizza dem Hamburger vorziehen, hat das US-Unternehmen sogar eine eigene Ladenkette, die McPizza, gegründet. Nahezu vergeblich. Schließlich wird in den meisten italienischen Familien immer noch zweimal am Tag warm gekocht, da bleibt kein Platz mehr für den Snack zwischendurch. In ganz Bra gibt es kein Fast-Food-Lokal.

Im Stadtzentrum gibt es aber auch keinen Drogeriemarkt, keinen Benetton, keine Schuhkette à la Humanic oder Bata. Von den großen internationalen Bekleidungsfirmen hat sich allein Stefanel niedergelassen. Wenn es etwas gibt, was Bra von anderen Städten in Europa unterscheidet, ist es die Vielfalt an kleinen und kleinsten Läden: Blusen und Pfeifen, Spielzeug und Vögel, Naturkosmetik und Uhren, Fahrräder und Seidenschals, Tapeten und Dessous. Viele Geschäfte sind kaum größer als dreißig Quadratmeter. In ihren Verkaufsregalen stapelt sich die Ware, fein säuberlich in Schachteln gepackt, bis unter die Decke.

Auf die Frage, ob die Stadt all diesen Kleinhändlern beim Überleben hilft, antwortet Vizebürgermeisterin Sibille ausweichend. Sie bekommen kein Geld, klar. Doch die Gemeinde kann versuchen, die Ansiedlung von Ladenketten und Supermärkten zu steuern – und sie so verhindern. Wichtiger aber ist: „Genauso wie jeder Metzger für die Spezialität von Bra, die Kalbswürstchen, sein Geheimrezept hat, so hat jeder von uns seinen Metzger, bei dem er die Würstchen seines Geschmacks kauft. Auf ihn will er nicht verzichten, und daher unterstützt er ihn“. Auch so kann man das Grundgesetz von Slow Food formulieren.

Überhaupt ist die Förderung des guten Geschmacks bei allen Bemühungen, auch etwas für Mülltrennung und umweltfreundliche Energie zu tun, das mit Abstand Wichtigste in Bra. Was natürlich auch mit dem Piemont zusammenhängt. Wohl in keiner anderen Region Italiens spielen die lokalen Spezialitäten eine so bedeutende Rolle. Im Frühling oder Herbst vergeht kaum ein Wochenende, an dem nicht in irgendeinem Dorf ein Food-Festival stattfindet. Vom Schneckenessen in Cherasco bis zur Trüffelmesse von Alba. Gestern schließlich begann in Bra das wichtigste Ereignis des Jahres, das Slow-Food-Festival „Cheese“: Über 100.000 Besucher werden bis Montag die Kleinstadt besuchen – um Käse zu probieren und zu kaufen.

Ist Bruna Sibille also zu pessimistisch, wenn sie sagt, dass die „Slow City erst in vielen, vielen Jahren Realität sein wird“? Alfa-Romeo-Händler Gobino meint, dass die Italiener zwar gern essen, aber nicht unbedingt auch etwas vom guten Essen verstehen. Auf dem Markt von Bra drängen sich die Kunden um die riesigen Paprikaschoten der Großhändler. Für die kleinen krummen Früchtchen der Kleinbauern interessieren sich dagegen nur wenige. Sie sind zu langsam gewachsen.