: Auf der Sternschnuppe
Ein Team aus der Romantik in reiner Schönheit: Wie der Finalsieg der deutschen Hockeyfrauen im hässlichen Monstrum Athen 2004 Sehnsüchte stillt und Naivität belohnt
AUS ATHEN RONALD RENG
Nachts um vier traf Bundestrainer Markus Weise seine letzte große taktische Entscheidung in Athen. Er nahm den letzten Bus ins Olympische Dorf. Damit bewies er wie so oft in diesen schon jetzt legendären Tagen auch in der kritischen Situation das richtige Augenmaß. Wäre er ein bisschen länger geblieben, wer weiß, wie er nach Hause gekommen wäre, vielleicht ohne Unterhose. Es dauerte jedenfalls nicht mehr lange, da dröhnten die fordernden Rufe seiner Hockey-Spielerinnen über die Terrasse des Deutschen Hauses: „Nackig durch das Dorf, nackig durch das Dorf!“ Nach dem Halbfinalsieg hatte der 41-jährige so dahingesagt, wenn seine Elf Gold gewänne, würde er halt unbekleidet eine Runde durchs Olympische Dorf drehen. So wie sich seine Mannschaft anhörte, wird er sein taktisches Geschick bis zum Abflug am Montag noch öfters beweisen müssen, um aus der Sache angezogen rauszukommen.
Irgendwann zwischen all diesen ausgelassenen Gesängen auf der Feier der ersten deutschen Gold-Mannschaft im Frauen-Hockey ging das Gespür für Raum und Zeit verloren. Man wähnte sich auf einer Sternschnuppe, die man für längst verglüht gehalten hatte: Dies war Olympia, das schöne, idealistische Olympia. Keine griechische Hürdenläuferin störte, von der jeder weiß, dass ihr Erfolg nicht natürlich ist; keine Wachsoldaten mit Maschinengewehr standen im Weg. Der unerklärliche Olympiasieg der Hockey-Elf stillte die Sehnsucht all jener, die sich die Naivität bewahrten, zu glauben, irgendwo in diesem hässlichen Monstrum, das die Athener Spiele sind, müsse ein kleiner, heiler Fleck sein. Und schon wieder kommt die Gänsehaut zurück, gegen die sich die neutralsten Zuschauer nicht wehren konnten, die den 2:1-Sieg dieser Außenseiter im Endspiel gegen Europameister Niederlande sahen.
Weises Elf ist keine dieser heute üblichen Mannschaften, die ständig von dem grimmigen Anspruch getrieben werden, Geschichte zu schreiben, Rechnungen zu begleichen, Missionen zu erfüllen. Wohl bereiteten sie sich sehr professionell vor, der Trainer ist zu Recht stolz darauf, weil es nicht immer so war. Aber sie blieben dabei immer ein Sportteam aus der Romantik. Sie stöhnten, wie schwer es sei zu trainieren, wenn sie Liebeskummer hatten; sie verloren in manchem Spiel völlig den Kopf, wie etwas beim 1:4 in der Vorrunde gegen die Niederlande. Sie offenbarten ihre ganze Zerbrechlichkeit und schafften es dennoch, dieses Turnier gegen nachweislich bessere Konkurrenz zu gewinnen. Und führten das ewig faszinierende Stück vom liebenswerten Außenseiter, der sich selbst überflügelt, in selten reinen Schönheit auf.
Man braucht gar keine Vergleiche heranziehen, sie hinken sowieso. Dieses Gold hat seine Einmaligkeit. So schwankend kann noch nie ein Olympiasieger gespielt haben. Bis kurz vor Ende der Vorrunde waren sie dem letzten Platz näher als dem ersten. „An Gold hättest du wohl vor einem Jahr nicht geglaubt“, sagte ein Fan zu Weise, und er antwortete: „Ich habe am Sonntag noch an gar nichts geglaubt.“
Vor einem Jahr übernahm Weise die Elf. Er erinnert sich, wie er vor dem ersten Spiel „eine 45-Sekunden-Rede“ hielt. Mehr Zeit war nicht, sie waren so spät zum Testspiel in Holland angekommen. Ein Jahr ist im übertragenen Sinne auch nicht viel mehr Zeit, das Siegerteam von Athen aus einer Elf zu basteln, die zu Weises Beginn 0:6 gegen Argentinien oder im EM-Halbfinale 1:5 gegen Holland verlor. Julia Zwehl, die nie um einen Kommentar verlegene Ersatztorfrau, sagte damals zu ihrer halbherzigen Spielweise: „Wer keinen Sex hat, kann auch nicht schwanger werden.“ Nach dem Finale lobte sie: „Wir haben gespielt wie die Geisteskranken.“
Sie werden sicher nicht konstant auf diesem Niveau bleiben. Vielleicht wartet das nächste 1:5 gegen Holland schon. Doch wen sorgte es in dieser Nacht fern von Raum und Zeit? Es ging auf sechs Uhr früh zu. Stürmerin Heike Lätzsch ging als Letzte nach Hause, kein Geld in der Tasche, kein Taxi in Sicht. Ein Auto kam vorbei, und Lätzsch hatte die Idee: Wortlos streckte sie dem Fahrer ihre Goldmedaille entgegen.
Unser Autor ist Anwärter auf die Ehren-Goldmedaille für herausragend empathisch-liebevolle Hockeyberichterstattung (taz-Kisch).