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Archiv-Artikel

Der Druck der Straße

Neue Protestformen: Einfach über das Internet eine Botschaft schicken, Berufsdemonstranten machen alles

Ach, die Jugend von heute: Sogar zum demonstrieren ist sie zu faul. Das macht man jetzt alles über das Internet oder, noch besser, per SMS. In der linken Hand die Alcopop-Flasche, in der rechten das Handy und dann mal lässig ein paar Politparolen abdrücken. „Wer Leistungen bezieht, muss auch die Hosen runterlassen“ (Fabian Pötter, Mannheim) oder „Olympia ist nur noch ein Kampf der Funktionäre“ (anonym). Kostet bloß 49 Cent, so billig wie die ganze Aktion www.mein-demonstrant.de, die sich die Münchner Reklame-Agentur Sassenbach-Advertising ausgedacht hat.

Juvenile Konsumenten, die mit einer eigenen Meinung ausgestattet sind, können Vorschläge für einen Plakattext abgeben. Am Abend werden vier Forderungen oder Statements, die tagsüber eingegangen sind, ausgewählt und den Usern zur Wahl angeboten: Der Slogan, der bis zehn Uhr des folgenden Tages die meisten Stimmen bekommen hat, wird von einem Berufsdemonstranten per Plakat vor den Reichstag getragen.

Bei Sassenbach-Advertising glaubt man, dass junge Zielgruppen anders denken, nämlich „so wie wir“, also so wie Reklamemacher denken, die sich auf die „Begeisterung junger Zielgruppen spezialisiert“ haben, übersetzt: sich in kommerzieller Absicht an diese heranwanzen.

„Mein Demonstrant“-Initiator Thomas Sassenbach geht es nach eigener Aussage darum, zu zeigen, dass „unsere Jugend nicht unpolitisch ist“, außerdem habe ihn gestört, dass in Deutschland so viel gejammert und schwarzgesehen werde und keiner etwas tue. Da liegt es ja nahe, vier hauptberufliche Demonstranten anzustellen, die sich vor den Reichstag stellen und dort die wartenden Kuppeltouristen mit den Meinungen der jungen Generation vollspammen, die es nicht mal für nötig hält, selbst dort zu erscheinen. Schön auch: Sassenbach betont, dass hinter seiner Idee kein politisches Interesse stecke. Dann muss es wohl ein anderes sein, irgendein Interesse, dass mit Werbung zu tun hat, mit PR, mit Schaumschlägerei, mit Zielgruppen und den vielen Artikeln und Fernsehbeiträgen, die anlässlich dieser Aktion bereits entstanden sind.

Ach nein, das kann nicht unsere Jugend sein. Auch wenn sie in Ost und West des Winkelementeschwenkens und Ostermarschierens müde geworden ist, ist sie nicht so dämlich, zu glauben, dass mit solchen Spielchen etwas zu erreichen wäre. Erst recht nicht in Ostdeutschland, denn dort hat man aus der Geschichte lernen können, dass Demonstrieren tatsächlich etwas bewirken kann. Also wird dort auch noch jeden Montag selbst gelatscht und nicht gesimst. Der über Internet versendete Vorschlag „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“ wurde übrigens nicht genommen. Seltsam. MARTIN REICHERT