: Des Kunst-Rasens Werk
Fluxusinstallationen und Genderstudies unter ganz neuem Licht betrachtet
Ich sah den Ball kommen. Er war lange unterwegs. Ich sah, wie er in den Strafraum rauschte, hoch und unerreichbar über zwei sich in das satte Himmelblau katapultierende Scheitel flatterte, sah, wie er Knopsis Glatze rasierte und diabolisch alle aus dem Gewühl hervorstechende Knie und Schuhspitzen mied. Ich staunte, als das Leder für Augenblicke halbhoch in der Luft zu hängen schien, sich letztlich aber doch resolut gegen den zweiten Pfosten senkte, wo es Lohmanns Hüfte fand, von dort an Feilers Schmerbauch prallte, dann Petruweit tunnelte, nur um am nächsten Maulwurfhügel in ein gemächliches Trudeln zu geraten. Wieso aber der ansonsten so reaktionsschnelle Kaulbach jetzt einfach danebengriff, Miric vorbeirutschte und der Lange die Kugel nicht richtig traf, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Klar war nur, dass sie damit in eine neue unheilvolle Richtung rollte. Als ich den Ball kommen sah, schoss es mir durch den Kopf: „Gottverdammt, er meint dich.“ Ich schloss die Augen und trat zu. Zwei Minuten später humpelte ich vom Platz. Die Diagnose machte keine Mühe: in den Rasen gehackt, Knöchel verstaucht. Letzte Woche war es das Knie, vor zwei Wochen musste ich mit zerbrochener Brille zum Augenarzt. So geht das seit einem Jahr, Donnerstag für Donnerstag. Im Sommer draußen, winters in der Halle. Nie komme ich ohne schmerzliche Blessuren davon. Bleibt die Frage: Warum macht man das? Oder besser, warum mache ich das?
Schuld ist Herr Rasen. Herr Rasen heißt wirklich so und ist Pförtner in einem führenden deutschen Kunstmuseum. An meinem ersten Arbeitstag wollte ich locker an ihm vorbeidribbeln. Heute weiß ich, dass das nicht einmal Stan Libuda geschafft hätte. „Tag“, sagte ich, „ich bin der neue Pressemann.“ Rasen hob den kompakten Oberkörper vom Sportteil der Bild und musterte ausgiebig meine eher leptosome Gestalt. Dann schob er den Kantschädel aus seinem Glasverhau und bellte mir heiser ins Gesicht: „Spieln Se Fußball?“ – „Früher mal“, sagte ich. Das war ein Fehler. Damit hatte ich mich für eine von Rasens diversen Feierabendmannschaften qualifiziert. Herr Rasen unterhält, ja man darf sagen, managt fünf Teams, für jeden Wochentag eines. Samstags ist spielfrei, klar, wegen Bundesliga. Sonntags tagt Rasen mit anderen frauenlosen Sportskameraden in der Lokalität „Fuchsbau“. Es gibt Eisbein und die Krombacher Runde auf DSF.
„Heute um sieben, Stadionsporthalle“ sagte Rasen damals. Seitdem tut mir ständig alles weh. Herrn Rasen tut nie etwas weh. Herr Rasen ist sechzig Jahre alt und fit wie der Adidas-Predator. „Los, kämpfen!“, brüllt er mir donnerstags in den Nacken. Gern auch: „Mensch, spiel doch ab“, oder man hört ihn zetern: „Wir können’s nich, nee, wir können’s einfach nich.“ Eigentlich meint er: „Du kannst es einfach nicht.“ Aber das verkneift sich Herr Rasen, weil er es sich nicht mit seinem Chauffeur verderben will, der ihn samt Rechtsaußen Feiler, dessen serbischem Schwiegersohn und vier Plastiktüten, in denen Rasen seine Sportutensilien herumträgt, regelmäßig zum Sportplatz karrt. Manchmal habe ich den Verdacht, ich darf überhaupt nur mitspielen, weil ich ein großes Auto habe.
Ich lasse mir das gern gefallen. Denn Herr Rasen ist in der modernen Welt der Kunst, im Dickicht des nur allzu oft quälend inferioren Diskurs- und Zeichenhaften, im Meer des egomanen wie besinnungslosen Performens und Heruminstallierens ein Fels des Humanen, ein Genie der Verweigerung. Mithin ein wahrer Künstler. Mit Arbeit kann man Herrn Rasen nämlich nicht kommen. Er hat viel zu viel zu tun. Eigentlich verwaltet er die Telefonzentrale, aber da ruft kaum noch jemand an, weil Rasen ganztägig die Leitung blockiert. Morgens wird das Ergebnis vom Vortag diskutiert, ab Mittag muss die Aufstellung für den Abend zusammentelefoniert werden. Und das kann dauern. „Hardi, du musst heute auflaufen“, dröhnt es dann aus dem Pförtnerkabuff. „Jens, das Kampfschwein hat Wasser im Knie.“ Dem Museum ist dadurch zweifellos einiges erspart geblieben. Was die Leitung des Hauses leider nicht immer zu würdigen weiß. Doch Abmahnungen und Strafaktionen prallen an Rasen ab wie Gewaltschüsse aus der zweiten Reihe an Olli Kahn. Die Konfiszierung seines Fernsehapparats anlässlich der WM in Japan, als Rasen sechs Wochen lang ab 9 Uhr morgens nicht nur das Telefon, sondern auch die Klingel des Personaleingange ignorierte, konterte er mit der Einspeisung der Übertragungen in die Videoinstallation eines litauischen Künstlerpaares. Was dem Genderstudy-Projekt ungeahnten Zulauf und den Litauern ganz neue Perspektiven eröffnete. Letztes Jahr waren sie mit Rasens Fußballprogramm auf der dokumenta. Auch sonst hat Rasen eindrucksvolle Spuren im Kunstbetrieb hinterlassen. Dem italienischen Fluxusartisten Nannucci, der letze Hand an seine Ausstellung legen wollte, ließ er Samstagnachmittag vor dem Museum schmoren, bis die NDR-Konferenzschaltung beendet war. Der zerüttete Italiener rächte sich mit einem Objekt namens „wicked game“. Es bestand aus einem hölzernen Kubus, das einen von außen nicht sichtbaren mit grünem Filz überzogenen Fußball enthielt. Die Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Rasen kommentierte das Kunstwerk so: „Da ist’n Ball drinne? Der Ball muss laufen, das ist doch die Kunst.“ MICHAEL QUASTHOFF