bernhard pötter über Kinder : Der Blick fürs Unwesentliche
Anders als ihre Eltern sind Kinder vorbildliche Touristen. Wir merken es nur meistens nicht
„Mama, ich will nicht weg, ich will hier bleiben“, schluchzte Jonas auf der Rückbank. Unser Sohn war wirklich traurig. Abschied nehmen fällt ihm immer schwer.
Dabei fuhren wir doch aus Hannover weg. Und über die niedersächsiche Landeshauptstadt hört man ja gemeinhin nur Gemeines. Was kann man schon erwarten von einer Stadt, die an der Leine liegt. Die einen ganzen Stadtteil „Mittelfeld“ nennt, aber Angriff und Abwehr vergisst. Die den weltberühmtesten Edeka der Republik besitzt, weil der Kanzler dort seine Brötchen kauft. Und die schließlich die Gegend, in der die hohen Tiere wohnen, tatsächlich „Zooviertel“ nennt. Ja, was kann man von einer solchen Stadt erwarten? Zumindest einen beispielhaften Zoo. Und da hat Hannover uns nicht enttäuscht.
Hier gondelten wir faul mit einem Boot an den Giraffen, Antilopen, Flusspferden und Flamingos vorbei. Wir betrachteten in einer wunderbaren „Dschungelbuch“-Kulisse mit unserem Nachwuchs interessiert den Umgang der Elefanten, Tiger und Affen mit ihren jeweiligen Zöglingen (der Tigermutter hätte ich zum Beispiel sofort das Sorgerecht entzogen: diese Prankenhiebe!). Und wir hörten vom Seelöwen-Trainer, wie schwierig es ist, einem Seelöwen beizubringen, nicht in den Fisch zu beißen, der vor ihm liegt. Fast so, als ob man die hungrige Tina an den Smarties im Supermarkt vorbeiziehen will.
Jedenfalls lohnt es sich für eine vierköpfige Familie durchaus, 50 Euro für den Zoobesuch hinzulegen. Die Kinder lernen ja so viel in dieser exotischen Umgebung. Dachten wir Bildungsbürger. Und was war nun das Beste? „Die Schildkröten im Vogelteich“, sagt Jonas. „Und die Esel.“ Und was war das Tollste für Tina? Die Enten zwischen den Flusspferden. Die Goldfische im Affenhaus. Die Spatzen auf dem Picknicktisch.
„Können wir nicht hier bleiben?“, jammerte Jonas auch eine Woche später, als wir aus Amsterdam wegfuhren. Über diese Stadt hört man gemeinhin nur Gutes. Die Koffieshops! Das Flair! Die Hausbesetzer! Die Cafés! Die Museen! Was erwartet man von dieser Sex-’n’-Drugs-’n’-Rock-’n’-Roll-City? Dass die Gegend um den Hauptbahnhof gleichzeitig von der Sex-, der Drogen- und der Touristenneppindustrie dominiert wird. Da hat uns Amsterdam nicht enttäuscht.
Aber es gibt auch eine ganz andere Seite der Stadt. Ein Amsterdam, in dem auf den Spielplätzen ein freundlicher Mann offiziell und hauptamtlich mit Hunden und Spritzen aufräumt. Wo die ganze Familie mit dem Tretboot die Grachten abstrampeln kann. Wo wir in unserem Vorort an jeder Ecke einen Fußballplatz und immer bereitwillige Oranje-Kicker fanden (und schon mit Rücksicht auf die traditionelle deutsch-niederländische Fußballfreundschaft immer verloren). Wo mitten im Hafen Fischreiher stehen. Und wo kostenlose Fähren durch die Stadt fahren, von denen wir unsere Kinder nicht mehr herunterbekamen.
Also nix mit „Nachtwache“. Nix mit Anne-Frank-Haus. Keine historische Führung. Anna war mal für eine Stunde im Van-Gogh-Museum. Aber das war es dann auch.
Städtetouren mit Kindern schärfen nun mal den Blick fürs Unwesentliche. Ist es nicht eine vergeudete Chance, in Amsterdam stundenlang Fähre zu fahren und nicht ins Rijksmuseum zu gehen? Im besten Zoo Deutschlands die Goldfische zu betrachten statt die Wombats?
„Na ja“, sagt Anna. „Seien wir mal ehrlich: Erwachsene machen ja auch nichts anderes.“ Wir fliegen nach Mallorca und bleiben auf dem Ballermann hängen. Wir fahren nach Ägypten zum Tauchen und verschwenden keinen Blick auf die Pyramiden. Wir bewundern in St. Petersburg die sanierten Fassaden und ignorieren das Elend. Und wir fahren nicht nach Italien, wenn uns da jemand blöd kommt. Der Tourismus, die weltweit größte Industrie, ist eines der größten Probleme für die soziale Entwicklung und die Umwelt. „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“, heißt es. Zum Beispiel, indem für die Besucher extra Attraktionen aus dem Boden gestampft werden.
Das ist bei meinen Kindern noch kein Problem. Wer einfach nur alle meine Entchen zählen will, braucht keinen Funpark. Wer in den schönsten Städten der Welt mit einem Fußball und der Sandschaufel glücklich ist, der macht alles richtig. Und für uns Miles-and-more-Travellers wird der Nachwuchs zum Vorbild. Schließlich lese ich in den Handbüchern für Reisen mit Kindern: „Egal, wo Sie hinfahren – die Kinder würden sowieso lieber zu Hause bleiben.“
Fragen zum Daheimbleiben?kolumne@taz.de