: Eine Krankheit, die einsam macht
Wie überleben afrikanische Kinder, wenn die Eltern an Aids gestorben sind? Albert ist 17 Jahre alt, aber der Junge in Sambia muss jetzt zusammen mit seiner 21-jährigen schwangeren Schwester drei kleine Geschwister auf eigene Faust großziehen
aus Livingstone (Sambia)MARTINA SCHWIKOWSKI
Die Nachbarin im Gebäude neben dem kleinen blauweißen Haus schüttelt ratlos den Kopf. Schnell wechselt sie ein paar Worte mit dem Sozialarbeiter. „Albert musste weg“, erklärt sie danach. „Seine Schwester bekommt ein Baby.“
Alberts Eltern sind tot – gestorben an Aids. Nun führt der 17-Jährige den Haushalt seiner Familie in einem Armenviertel am Stadtrand von Livingstone alleine. Nach dem Schulunterricht versucht er als Tagelöhner das Geld für Essen zu verdienen. Weil die 21-jährige Schwester Queen zum Arzt muss, bleibt heute die komplette Familie Chitambala der Schule fern.
Die Schule liegt im Freien. Nach nur wenigen Fahrtminuten durch den Busch am Rande von Alberts Wohnviertel tauchen sie auf, die kleinen Gesichter, die fasziniert auf Holzbänken unter einem Baum den Worten ihres Lehrers lauschen. Ein rostiges Stück Blech hängt als Schulglocke von einem Ast herunter. Ihr dumpfer Schlag ruft täglich 115 Kinder im Alter zwischen 4 und 15 Jahren aus den umliegenden Haushalten zum Unterricht. Die meisten von ihnen haben mindestens ein Elternteil durch Aids verloren, und das Leben bei Großeltern oder Verwandten ist hart. Oft wird der Hunger der Kinder nur alle zwei oder drei Tage mit Maisbrei gestillt.
Katanekwa Sinanjwaula sitzt nur einen Steinwurf vom „Schulbaum“ entfernt an seinem uralten Pult vor einer strohgedeckten Hütte. Der 15-Jährige geht in die einzige Oberschulklasse. Als seine Großmutter die Schuluniform nicht mehr bezahlen konnte, musste er die staatliche Schule verlassen und fand in der durch die Hilfsorganisation Care International anschubfinanzierten Dorfschule einen Platz.
„Ich gehe gerne zur Schule“, sagt Katanekwa in seiner Sprache Lozi. Arzt will er werden. Dann würde er HIV-Tests anbieten. Der Junge, der 1999 seine Mutter und ein Jahr später seinen Vater an „einer langen Krankheit“ verlor, lächelt ein wenig. Zu Hause bei der Großmutter fühlt er sich nicht wohl. „Ich muss den Hof fegen, wir haben keine Kleidung und wenig zu essen“, sagt er leise. Wenn seine Mutter noch leben würde? „Dann würde ich ihr sagen, das ich eine Decke zum Schlafen brauche.“
Eine Freundin hat der 15-Jährige nicht. „Ich habe Angst davor.“ Denn er sieht, dass die Mädchen, die sich häufig auf die älteren Männer einlassen, immer dünner werden und sterben.
„Die Zahl der Aidswaisen nimmt ständig zu“, sagt Direktor Norman Phiri. „Als die Schule vor sieben Jahren ihren Unterricht aufnahm, kamen keine Vorschulkinder. Jetzt kommen immer mehr.“ In Sambia, einem Land mit 10 Millionen Menschen, liegt die HIV-Infektionsrate bei 21 Prozent. Etwa 570.000 Kinder in Sambia – 13 Prozent der Kinder des Landes – haben ein oder beide Elternteile an Aids verloren.
Zurück in Alberts Straße nehmen die Chitambalas auf einem Baumstumpf vor ihrem blauweißen Haus Platz. Queen hat doch noch kein Kind gekriegt. „Es war ein Kontrolltermin beim Arzt“, sagt die junge Frau verlegen und schaut auf den Boden. In Alberts Haushalt gibt es kein Lächeln. Die jüngeren Geschwister Alex (7), Alice (10) und Beatrice (12) sitzen stumm neben Albert, der sagt: „Unsere Eltern sind nun ein Jahr tot, wir haben uns schon daran gewöhnt.“ Dass Aids die Todesursache war, sagt Albert nicht, doch er weiß, was das ist. „Ich muss ein Kondom benutzen, wenn ich Sex haben will, und das sage ich auch meiner Schwester“, erklärt er. Seine Schwester Queen hatte einen Freund, der sie schnell sitzen ließ. Sexueller Missbrauch trägt zur höheren Zahl von Aidskranken unter Mädchen bei.
Alberts Familie hat wenigstens ein Dach über dem Kopf. Doch die schmuddeligen, winzigen Räume des Elternhauses ohne Eltern sind verwahrlost. Der Strom ist wegen nicht bezahlter Rechnungen abgeschaltet. Neben dem rostigen Zwei-Platten-Kocher steht eine Schüssel mit getrockneten Okra-Blättern: die Mahlzeit für den Tag.
Albert deutet auf sein Zimmer und vermeidet jeglichen Augenkontakt. „In schlimmen Zeiten sind Freunde selten“, steht auf einem Schild über dem Türrahmen. Im Zimmer liegen ein paar holzgeschnitzte Tiere im Regal. Er stellt sie selbst her und verkauft sie auf den Märkten in Livingstone – eine Beschäftigung, die er von seinem Vater, einem Holzschnitzer, erlernte. Von den kargen Wänden lächeln Popstars und Models auf sein Bett: Die Traumwelt eines Teenagers. Und in zwei Wochen wird Alberts Schwester ein weiteres Familienmitglied auf die Welt bringen.