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Archiv-Artikel

Wehmut und Melodram

Von der Seine an die Spree verschoben: Ina Deter singt im Tipi Chansons von Edith Piaf über ganze Kerle aus der Vorstadt und den Stolz der Straßenmädchen

Die Zeiten ändern sich. Als vor dem Reichstag an der Mauer noch Fußball gespielt wurde und das Tempodrom wenige Schritte weiter die Vision einer Alternativkultur mit einem Zeltdach überwölbte, sang Ina Deter „Neue Männer braucht das Land“ (1982). Das Tempodrom und die Fußballer mussten gehen, neue Männer hat das Land, besingen mag sie keiner. Die Wiese wurde zur gepflegten Rasenfläche zwischen den Repräsentationsbauten der neuen Mitte, und im Tipi, dem Zelt am Kanzleramt, streichelt nostalgische Sehnsucht nach der Zeit, als man noch Träume hatte, die Seelen.

Ina Deter singt Edith Piaf, und das ist mehr als retro. Denn so globalisiert, dass wir nun alle gut genug Französisch könnten, um auch die Texte der berühmten Chansons aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren zu verstehen, sind wir leider nicht. (Der jetzt so berüchtigten 68er-Generation mit ihrer Frankophilie hätte man das noch zutrauen können.) Ina Deter hat die Lieder übersetzen lassen und neu gedichtet. So wird ihre Interpretation zu einer des Geschichtenerzählens. Reingezogen wird man mit wenigen Sätzen in die kleinen Kammern der Einsamen, unter das Licht einer Straßenlaterne, in die hoffnungsschwangere Luft eines Ballsaals. Schneller als ein Film greift das Melodram nach unserem Mitgefühl. Viele der Lieder klingen nach schwarzweißem Kino mit langen Einstellungen und Bildern vom Abend am Fluss. In den lakonisch kurzen Zeilen haben viele schweigsame Männer und Frauen Platz. Denn die Musik und die Gefühle, die sie transportieren, sind fast nie eine Sache des erfüllten Augenblicks, sondern immer des lang anhaltenden Schmerzes danach.

Es ist die Perspektive des Rückblicks und des zurückgezogenen Beobachters, die diese Texte prägt, und diese Position steht der heute 57-jährigen Sängerin gut. Sie versucht in ihren Ansagen ihre persönliche Erfahrung nahe an den Emotionsgehalt der Lieder zu bringen, als ob es auf authentische Wahrhaftigkeit ankäme. Das gelingt nur halb, glücklicherweise, denn die perfekt theatralischen Posen der Chansons wären denn doch zu viel der Selbststilisierung. Ein wenig kokettiert Ina Deter mit ihrer Aufgeregtheit und ihrer Vergangenheit als Songwriterin der Frauenbewegung.

Was ihr an Kritik an den Männern blieb, lässt sich allerdings auf ein Küchenhandtuch sticken. Die Sängerin, die den Auftritt im Tipi auch als eine Heimkehr nach Berlin feiert, begrüßt ihre Tanten, Schulfreundinnen, Erzieherinnen und andere Freunde aus Hermsdorf und Lübars.

Sie hat Hosen, Kittel und transparente Hemden übereinander geschichtet wie eine, die sich nichts von der Mode sagen lässt und nur ihrem eigenen Kopf folgt. Zu einem Teil der Lieder von ganzen Kerlen aus der Vorstadt, dem Stolz der Straßenmädchen und einer Hymne der Luden und Strolche hat man plötzlich eher Bilder vom Zille-Milljöh vor Augen als aus dem proletarischen Paris, das Edith Piaf in ihren Liedern hochhielt. Eine merkwürdige Verschiebung von der Seine an die Spree.

Mit allen Kräften unterstützt wird Ina Deter von einem achtköpfigen Orchester, das den historischen Abstand zu Melodien begeistert ausmalt. Wie die Mitglieder einer reisenden Zirkustruppe, die mit Walzer und Tango das Leben Nacht für Nacht in eine Karussellfahrt verwandeln.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Ina Deter singt Piaf, noch einmal am 2. September, 20.30 Uhr, im Tipi, dem Zelt am Kanzleramt