: Tage, die morgens erschöpft sind
aus Stuttgart und Berlin KIRSTEN KÜPPERS
Es sind auch die Sätze, die Marion Schneider nicht mehr ertragen kann. Sätze wie „Schlaf dich doch mal richtig aus!“ oder „Geh doch zum Arzt!“. Die Sätze meinen es gut, aber sie helfen nichts. „Nichts“, wiederholt Marion Schneider. Und die Leute, die zu ihr kommen mit diesen Sätzen, wissen noch viel weniger, sagt sie. Die verstehen nichts von ihrer Müdigkeit, überhaupt nichts von diesem Zustand, der plötzlich auf sie gefallen ist wie ein schweres Gewicht und der sich durch Schlafen nicht mehr beheben lässt. Längst hat die 26 Jahre alte Marion Schneider aufgehört zu zählen, zu wie vielen Ärzten sie schon gerannt ist deswegen. Nein, nicht mal eine Ahnung haben die Leute von dem, was sie seit sieben Jahren aushält. Blass, mit glatten blonden Haaren und einer Tasse Tee zwischen den Händen sitzt sie auf dem Sofa in ihrer Wohnung. Sie lacht beim Reden. Ein helles Lachen, das laut und aufdringlich im Zimmer steht. Das ist so Marion Schneiders Art: zu lachen, wenn sie etwas Trauriges erzählt.
In Wirklichkeit hat Marion Schneider einen anderen Namen. Aber den will sie nicht in der Zeitung haben. Weil sie sich schützen möchte. Sich und ihr Leben, das sie hier im Zimmer einer Mietswohnung im Stuttgarter Westen führt. Es ist so schon zu wenig, was Marion Schneider bleibt vom Tag. Nur zwei Stunden vielleicht, an denen sie wirklich wach ist und lebendig. Die restliche Zeit liegt sie einfach nur da. Sie liegt auf dem Sofa, guckt gegen die Wand und ist müde. Entsetzlich müde. Zu erschöpft für irgendwas. Marion Schneider leidet unter CFS, was ausgeschrieben für „Chronical Fatigue Syndrom“ steht und übersetzt so viel heißt wie chronischer Erschöpfungszustand. Das klingt wie ein Witz. Aber CFS ist keine gewöhnliche Müdigkeit. Marion Schneider ist eine von geschätzten 300.000 Betroffenen in Deutschland. Sie sagt: „Man fühlt sich so schlecht wie noch nie im Leben.“
Die Müdigkeit ist nicht schleichend gekommen. Nicht wie ein sich anbahnendes Gefühl. Stattdessen eine Attacke, auf einmal war die Erschöpfung da. Wie eine Erkältung hat es angefangen: Müdigkeit, Gliederschmerzen, Halsweh, erhöhte Temperatur. Marion Schneider ist 19 Jahre alt, als es passiert, ein blondes Mädchen in Konstanz, das baden geht im See und Eis essen nach der Schule. Sie hat einen neuen Freund, einen neuen Führerschein und nur ein Jahr noch bis zum Abi. Eine Erkältung kriegt jeder mal. Erkältungen gehen weg.
Marion Schneiders Beschwerden hörten nicht auf. Ein Abgeschlagenheitsgefühl, eine bleierne Erschöpfung, die bewirkt, dass eine 19-Jährige in Konstanz nicht einmal die paar Meter von der Doppelhaushälfte zur Bushaltestelle schafft. Ein Teenager, der sich vom Bett auf die Wohnimmercouch schleppt wie eine gebrechliche Rentnerin. In die Schule geht Marion Schneider da nur noch stundenweise. Und die ganze Zeit ist sie müde. „Einfach völlig kaputt“, erzählt sie und lacht.
Niemand hörte richtig zu
Und natürlich glaubt einem irgendwann keiner mehr. Wenn die Ärzte nichts finden. Wenn man normal aussieht und keine Symptome hat. Ein bisschen erhöhte Temperatur, das ist alles. Die Eltern, die Lehrer, die Freunde fangen mit ihren ungeduldigen Sätzen an: Raff dich auf! Reiß dich zusammen! Schlaf dich aus! Die Welt läuft geordnet in Konstanz am Bodensee und Monika Schneider bedroht diese Ordnung mit ihrer komischen Krankheit. Die Leute bringen ihre Rezepte dagegen in Stellung: Vitamine, Trennkost, tibetische Akupressur, Kniebeugen, Psychopharmaka, Hormone, Blutgruppendiät, kalte Duschen, Kräutertees. Alles soll Marion Schneider probieren. „Nur zugehört hat mir keiner richtig“, sagt sie.
Das Abitur hat sie noch geschafft. Danach wurde es schlimmer. Marion Schneider ist zur Kur gefahren an die Nordsee. Sie sollte sich an der Luft bewegen und auf einem Trimm-dich-Rad treten. Eine Aufgabe, die viel zu groß ist für einen sehr müden Menschen, sie brach fast zusammen. Selbst in der Seniorengruppe war es zu anstrengend. Gymnastik im Sitzen. Und immer wieder die Sätze: „Los, du bist doch noch jung!“
Nach der Kur konnte Marion Schneider überhaupt nichts mehr machen. Nicht einmal ein Buch konnte sie halten. „Ich fühlte mich so eingesperrt“, ruft Marion Schneider. Sie hat sich dann einen Rollstuhl besorgt.
Es ist etwas besser jetzt. Sie sagt das von ihrem Platz auf dem Sofa aus, mit der Teetasse in der Hand. Die Tage laufen so, dass sie sich nach dem Frühstück wieder hinlegen muss. Aber danach kann sie immerhin kurz sitzen, Besuch haben und reden, den Rollstuhl benutzt sie nicht mehr. Dass sich ihr Zustand stabilisiert hat, ist vor allem Rüdiger von Baehr zu verdanken.
Ein tückisches Syndrom
Von Baehr sitzt hinter einem breiten Schreibtisch in Berlin, ein älterer Mann mit blauem Hemd und weißem Haar, sein Sprechzimmer liegt in einer ruhigen Gegend, wo ihn nichts von der Forschung ablenkt. Über 300 CFS-Patienten hat der Internist behandelt, er ist einer der wenigen, die sich überhaupt auskennen mit der Krankheit in Deutschland. Er hat verfolgt, wie CFS in den 80er-Jahren in Amerika bekannt wurde als Krankheit der Yuppies, als Schwäche von Menschen, die sich zu sehr verausgabt haben. Er hat beobachtet, wie Prominente wie Cher, Keith Jarret oder der Fußballer Olaf Bodden plötzlich erklärten, betroffen zu sein, wie das Ganze Wellen schlug, bis auch die deutsche Bundesärztekammer CFS in ihre Liste der Krankheiten aufgenommen hat.
Erfahrung ist es wohl auch, die von Baehr das Phänomen jetzt mit einer Nüchternheit beschreiben lässt, die seine Klienten nicht schont. „Das Tückische an CFS“, erklärt er, „ist, dass der Patient zwar ausgeprägte Beschwerden hat, gleichzeitig aber der objektive Befund für dieses Kranksein fehlt.“ Typisch sei, dass Betroffene von einem Arzt zum anderen laufen, aber nichts gefunden werde. „Die Leute sehen ja auch nicht wirklich krank aus“, meint von Baehr.
Dann spricht der Experte das Schlimme aus. „Mit unserem heutigen Wissen sind wir Ärzte nicht in der Lage, diesen Zustand zu erklären.“ Von Baehr hält die Arme verschränkt, er verschanzt sich hinter dem Stand der medizinischen Forschung. Er ist der Fachmann und er sagt, es gibt keine Lösung.
Die Ärzte wissen nicht, woher diese Krankheit kommt, und sie wissen nicht, wie man sie heilen kann. Sie wissen fast nichts. Es kann sein, dass CFS durch einen Virus ausgelöst wird, durch Umweltgifte, durch einen Pilz, einen Zeckenbiss oder eine Allergie. Man kann die Patienten untersuchen, in Apparate stecken, von oben bis unten durchröntgen. „Und trotzdem wird man in der Regel nichts finden“, sagt von Baehr. Fest stehe nur, dass bei CFS eine Störung des vegetativen Nervensystems vorliegt. Diese bringt den Kreislauf und die Regulation der inneren Drüsen durcheinander. Dauerhafte Erschöpfung ist die Konsequenz. Wie diese zu beseitigen ist, haben die Ärzte bislang nicht herausgefunden. „Man kann den Patienten nur immer wieder untersuchen, hoffen, dass man irgendwo einen Grund für das Unwohlsein findet, diesen behandeln und manchmal hat man damit sogar Erfolg.“ Optimistisch klingt das nicht.
Aber in eine schöne Zukunft weisen von Baehrs Erfahrungen ja auch nicht: Nur bei 30 Prozent der Betroffenen verschwindet die Erschöpfung. Bei weiteren 30 Prozent bessern sich die Symptome. Beim Rest ist die Müdigkeit chronisch. „Und je länger die Sache anhält, desto unwahrscheinlicher ist, dass eine Besserung eintritt“, sagt von Baehr. Er sitzt mit verschränkten Armen hinterm Schreibtisch, er ist keiner, der Unangenehmes verschweigt. „Natürlich gibt’s dann oft Suizidgedanken. Viele verlieren ihre Arbeit, ihre sozialen Kontakte, Ehen zerbrechen – es sind schreckliche Dinge, die sich da abspielen.“
Das Umfeld verschwindet leise
Wenn das gewohnte Umfeld verschwindet, ist das ein leiser Vorgang. Bei Armin Bartsch war es jedenfalls so. Der 33-Jährige spricht schleppend ins Telefon, die Stimme verrät, wie ihn das Telefonieren anstrengt. Erst hat er seinen Job als Betriebsschlosser verloren, dann haben sich die Freunde zurückgezogen. Von einem Bekanntenkreis, der am Wochenende zusammen Bier trinkt und ausgelassen durch die Diskotheken von Bielefeld zieht, ist ihm nur seine Freundin geblieben. „Wenigstens etwas“, sagt Bartsch. „Langsam, aber sicher vereinsamt man. Das ist schon deprimierend. Da kommen anfangs schon Zweifel am eigenen Leben auf.“ Die Freundin kümmert sich nun, kauft ein. Er selbst ruht sich aus, liegt da, guckt aus dem Fenster. Ein Dasein in unfreiwilliger Isolation. Seit zwölf Jahren geht das schon so. An Genesung glaubt Bartsch nicht mehr. Er beschäftige sich jetzt viel mit seinem Computer, sagt er lahm.
Bei Marion Schneider ist es anders. Bei ihr hat der Internist von Baehr eine Auffälligkeit gefunden. Einen viel zu schnell rasenden Puls. Dagegen hat der Arzt Betablocker verschrieben. Die dämpfen den Herzschlag und machen bescheidene Aktivität wieder möglich. Es ist wenig, sagt Marion Schneider. Aber die Betablocker sind ein Anfang. Etwas, woran sie sich festhalten kann. Sie ist inzwischen nach Stuttgart gezogen, sie studiert Psychologie an einer Fernuniversität, die Prüfungen darf sie zu Hause unter Aufsicht ablegen. Es ist kein normales Studentenleben. Aber es ist besser als der Rollstuhl.
Den Freund von damals aus Konstanz, den hat sie noch. Einmal steckt er den Kopf ins Zimmer und sagt: „Hallo, ich bin der Freund.“ Er putzt die Wohnung, kocht und hilft – ohne ihn würde Marion Schneider es nicht schaffen. Aber die Beziehung habe unter der Krankheit gelitten, erklärt sie, „das ist klar“, und diesmal setzt sie ihr traurig-komisches Lachen gegen die zu große Abhängigkeit, die herrscht.
Was die Zukunft bringen wird, kann Marion Schneider nicht sagen. „Ob ich irgendwann noch mal nach Paris komme?“ Sie lässt die Frage in eine Pause fallen. Eine kurze Stille, in der Unglück steckt und auch viel Angst. Das Lachen bleibt aus, die Teetasse steht leer auf dem Tisch. Dann sagt sie, dass sie müde ist und dass man besser gehen soll.