Melodien für Millionen

Die meisten sind gegen ihren Präsidenten George W. Bush: Es ist lange her, dass sich Popstars so sehr für die Politik verantwortlich gefühlt haben wie in diesem US-Wahlkampf. Was daran liegt, dass Politik allerhand vom Pop gelernt hat

VON ARNO FRANK

„Wer einem Rockstar zuhört, um sich darüber zu informieren, wem er seine Stimme geben soll, ist ein noch größerer Depp als der Musiker selbst“

(Alice Cooper)

Wenn man derzeit nicht ganz genau hinschaut, dann könnte man Idealismus und Zynismus fast für Zwillinge halten. Im ausverkauften Madison Square Garden zu New York jedenfalls erreicht heute ein spektakuläres Festival seinen Höhepunkt. Tagelang hat sich das Publikum berauschen lassen von der erhebenden Musik, von einer ausgeklügelten Lightshow, von der beeindruckenden Klangtechnik – und von sich selbst. Gekrönt wird das Ereignis vom erlösenden Auftritt des Hauptdarstellers: George W. Bush, der US-Präsident bleiben will.

Zeitgleich ging nebenan, in einer kleineren Halle, eine andere Veranstaltung über die Bühne. Wer noch Karten ergattert hatte, der ließ sich berauschen von der erhebenden Musik, von einer ausgeklügelten Lightshow, von der beeindruckenden Klangtechnik – und von sich selbst. Geadelt wurde dieses Ereignis aber nicht durch den Auftritt des Hauptdarstellers, Bruce Springsteen, sondern durch eine Botschaft: George W. Bush darf nicht US-Präsident bleiben. Es war der Auftakt der umstrittenen „Swing State“-Tournee, mit der ein hochkarätig besetzter Rockzirkus bis zur Wahl am 2. November zugunsten des demokratischen Herausforderers John F. Kerry an der Waage züngeln will.

Dass die konkurrierenden Events einander so sehr ähneln, liegt an einer grotesken gegenseitigen Anverwandlung der Mittel. Beide Veranstaltungen mobilisieren ihre Anhänger, beide organisieren ein Gemeinschaftsgefühl. Und Wundermittel zum Zweck ist in beiden Fällen das unschlagbar wirkungsvolle Instrument – der der emotionalen Überwältigung.

Allerdings ist es sehr lange her, dass sich Vertreter der Popkultur so sehr in der gesellschaftlichen Pflicht fühlten. So lange, dass es zuletzt fast schien, als hätten die bewegten Bilder dem bewegten Pop den Rang abgelaufen. Dokumentarfilmer wie der notorische Michael Moore unterhalten vordergründig ihr Publikum, um es hinterrücks aufzuklären. Und der US-Filmemacher Morgan Spurlock („Super Size Me“) erklärte der taz: „Einerseits handelt mein Film vom Selbstversuch eines kaputten Typen, der sich so lange voll frisst, bis er krank wird. Deshalb gehen die Leute ins Kino. Was sie aus dem Kino mitnehmen, das ist ein geschärftes Bewusstsein für Ernährungspolitik.“ Mit offenkundigem Erfolg: Spurlocks Low-Budget-Produktion nötigte den Großkonzern McDonald’s zu einer weltweiten Aufklärungskampagne.

Der Trick mit der unbekümmerten Verschränkung von Entertainment und Aufklärung, ein spezifisch angelsächsisches Phänomen, funktioniert also verblüffend gut. So gut, dass die Konservativen nun ihrerseits populäre Musiker drängen, endlich Flagge zu zeigen. Gemeldet haben sich Altrocker Alice Cooper, Prollrocker Kid Rock und Britney Spears – die ist zwar extrem populär, hat aber „absolut nichts zu sagen und so viel Tiefgang wie ein Vogelbad“, wie David Crosby hübsch bemerkte. Eine Britney Spears kann Anhänger einlullen, Gegner umstimmen kann sie nicht.

Ganz im Gegensatz zu einem Schwergewicht wie Bruce Springsteen, den alle nur respektvoll „The Boss“ nennen. Sein Album „The Rising“, eine direkte Reaktion auf die Anschläge vom 11. September, wurde als erbaulicher Balsam für Seele und Selbstbewusstsein einer verletzten Nation empfunden und machte den Mann endgültig zur schmucken Harley-Davidson unter den US-Rockern. Dabei gilt er schon seit seinem Hit „Born In The USA“ als nationale Ikone – wobei der Song seit 20 Jahren von eben jener konservativen Klientel als patriotische Hymne missverstanden wird, die er nun im Rahmen der „Swing State“-Tournee vom Gegenteil überzeugen will. Marylin O’Grady, New Yorks Kandidatin der Republikaner für den US-Senat, ist über diese Opposition so gekränkt, dass sie eigens einen TV-Spot geschaltet hat: „Boycott The Boss“.

Nur wenige Künstler haben heute noch eine so integrative Funktion wie Bruce Springsteen. Zu ausdifferenziert ist der Markt, zu speziell sind die Codes der jeweiligen Subkulturen. An Hymnen wie „Give Peace A Chance“ oder „Imagine“, wirkungsmächtig über alle Klassen-, Rassen-, und Altersgrenzen hinweg, ist schon lange nicht mehr zu denken.

Was allerdings auch gar nicht nötig ist, weil sich der Wille zur gesellschaftlichen Teilhabe dann eben selbst diversifiziert und in so verschiedenen Sprachen wie Punk, Country, Rock oder Hiphop neu formuliert. Mit einer landesweiten Veranstaltungsserie versuchen derzeit beispielsweise Hiphopstars wie Eminem oder P. Diddy, ihre Fans überhaupt für die Wahlen zu interessieren, sich registrieren zu lassen und somit demokratische Rechte wahrzunehmen. Andere, Public Enemy oder Supernatural, loben regionale Preise für die besten Anti-Bush-Raps aus. 500 Dollar kassiert der Sieger und darf zum Finale nach Miami fahren, wo dann noch mal ein Preisgeld von 5.000 Dollar winkt.

Was eint sie jedoch tatsächlich? Ein liberales Verständnis von amerikanischem Patriotismus, der sich aus Weltläufigkeit speist. Um es mit R.E.M.-Sänger Michael Stipe zu sagen: „Als jemand, der mit seiner Musik die ganze Welt bereist, ist es mir ein großes Bedürfnis, darauf hinzuweisen: Nicht alles, was man über unser gewaltiges, unregierbar gewaltiges Land hört, entspricht der Meinung der Menschen, die dort leben. Wir nerven die Europäer mit unseren Anti-Bush-Statements auf der Bühne? Gut, nun sind wir wieder daheim und machen dort unsere Hausaufgaben“, machen Politik statt Pop.

Der Kater aber kommt gewiss. Wie schon bei George Harrisons „Concert For Bangladesh“, bei Bob Geldofs „Band Aid“ oder der massiven Wahlhilfe für Tony Blair durch Bands wie Oasis, verlässt hier der Pop seinen angestammten Bereich. Er zielt nicht mehr auf Seele, Gemüt oder Geldbeutel des Einzelnen, sondern stellt sich in den Dienst einer Sache. Er wird Werkzeug, um politische Botschaften zu kommunizieren. Und je expliziter der Pop politisch sein will, desto weniger authentisch kann er sein. Jean-François Lyotard hat einmal formuliert, dass, wenn es in der Kunst eine Kommunikation gibt, diese ohne Begriff sein müsse.

Was ist Musik? Absichtsvoll erzeugte und systematisch arrangierte Schallwellen, die auf unsere Trommelfelle treffen und über mehrere Zwischenstufen Nervenimpulse erzeugen, die im Gehirn verarbeitet und wahrgenommen werden. Was ist Politik? Laut Langenscheidt alle Aktivitäten zur Durchsetzung von Zielen im staatlichen Bereich. Aber auch „berechnendes, taktierendes Verhalten, das Absichten nicht zu erkennen gibt“. Tricksen also.

Wenn nun der Idealist behauptet: „Pop ist immer politisch“, dann wird ihm der Zyniker zustimmen: „So wie Politik immer populistisch ist.“