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Archiv-Artikel

Erzähl mir die Welt

Jürgen Osterhammels Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt eine Welt im Umbruch, deren etablierte Wahrnehmungsmuster uns bis heute prägen. Ein grandioses Porträt einer Epoche und vor allem: ein Stück Weltgeschichte ohne Eurozentrismus

VON DETLEV CLAUSSEN

Wer fünfzig Euro auf den Tisch legt und sich Jürgen Osterhammels „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“ kauft, erwirbt kein Buch, sondern eine Bibliothek in einem Band.

Aber diese Bibliothek ist durchgearbeitet und aufbereitet für den Leser, dem geholfen wird zu verstehen, was ihm Rätsel aufgibt, und dem die Augen geöffnet werden für Fragestellungen, die ihm noch gar nicht in dieser Schärfe bewusst waren, obwohl sie von erheblicher Relevanz für seine eigene Verortung in Raum und Zeit sind.

Osterhammels Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts wird viele akademische und publizistische Neider auf den Plan rufen. Wie ist eine solche synoptische Leistung von einem Einzelnen überhaupt möglich? Ist da nicht vermessene Angeberei, Großspurigkeit oder gar eine Orgie des wissenschaftlichen Narzissmus am Werk?

Bei großen wissenschaftlichen Riesen erkennt man doch die Schultern einer Armee von wissenschaftlichen Zwergen, auf denen sie stehen. Man wäre vielleicht noch bereit, diese ungeheure Materialfülle und Sachkenntnis, mit überlegten und abgewogenen Urteilen kombiniert, als das überragende Lebenswerk eines grandiosen achtzigjährigen Historikers zu akzeptieren. Nicht einmal so etwas kann trösten.

„Die Verwandlung der Welt“ ist nicht das erste herausragende Buch, das Jürgen Osterhammel geschrieben hat, und wenn Krankheit und vorzeitiger Tod nicht dazwischenkommen, wird er einer dankbaren Leserschaft noch einige exzellente Arbeiten schenken; denn bei ihm handelt es sich, ganz altmodisch gesagt, um einen Meister.

Schon sein 1999 veröffentlichtes Buch „China und die Weltgesellschaft“ kombinierte eine stupende Gelehrsamkeit mit souveräner darstellerischer Stoffbeherrschung. Seither gesteht der Rezensent jedes Buch von Jürgen Osterhammel mit Aufmerksamkeit und freudiger Erwartung gelesen zu haben. Bereits mit seiner leicht zu lesenden handlichen „Geschichte der Globalisierung“ hat er 2007 (zusammen mit seinem Assistenten Niels P. Petersson) einen überschaubaren kleinen Band geliefert, der jeden Wissensdurst löscht und Hunger auf mehr macht. Diesen Hunger kann man jetzt mit dem neuen Meisterwerk – es gibt keine bescheidenere Kategorie für dieses Projekt – stillen.

Das 19. Jahrhundert steckt in allem, was wir als Zeitgenossen des 21. gesellschaftlich wahrnehmen; denn damals wurden die sozialwissenschaftlichen und medialen Kategorien geprägt, in der die Welt noch heute wahrgenommen wird. Osterhammels Arbeit versetzt durch seine synthetische und analytische Praxis dem Eurozentrismus einen entscheidenden intellektuellen Stoß; denn Fallendes soll man bekanntlich stoßen. Aber moralisch-politische Weh- und Anklagen, die in postmoderner Zeit wohlfeil geworden sind, haben den Eurozentrismus nur in seiner fortwirkenden Macht bestätigt, weil die postmodernen Akademiker und Journalisten die theoretischen Werkzeuge diffamierten, die ihn hätten zu Fall bringen können.

Der Ruhm des englischen Sozialhistorikers Eric Hobsbawm beruht auch darauf, dass er unbeirrt aller akademischen Konjunkturen an seiner „großen Erzählung“ weitergeschrieben hat, die nicht nur seine, sondern auch zu Teilen „unsere“ war. So ist es zu diesem Paradox gekommen, dass ein aus einer sektiererischen kommunistischen Partei rechtzeitig ausgeschlossener Historiker des englischen Kapitalismus zum in West und Ost gefeierten Interpreten der Systemveränderungen des 20. Jahrhunderts werden konnte.

England wurde zum Mutterland der neuen Weltgeschichte: Christopher A. Baylys gerade zur Kenntnis genommener großer Wurf „Die Geburt der modernen Welt“ ist aus der Selbstreflexion historischer Wissenschaft und ihrer Gegenstände hervorgegangen. Geschichte und Gesellschaft Indiens, bei der Bayly seine Historikerlaufbahn begann, lassen sich nicht ohne Geschichte des Empire begreifen, also muss die reale Bedeutung Englands als Inbegriff Europas, als der ökonomisch-politischen und intellektuell-kulturellen Macht des 19. Jahrhunderts, verstanden werden. Bei Hobsbawm wie bei Bayly wächst das welthistorische Interesse gleichsam aus ihren behandelten Gegenständen heraus.

Das könnte auch für den Asienhistoriker Osterhammel gelten; aber er widersteht der Versuchung, parallel zu England den deutschen Kolonialismus welthistorisch aufzublasen, sondern übt systematisch den Perspektivwechsel ein, der Amerika und Afrika ebenso zu wichtigen Koordinaten eines Blicks auf Europa und der Analyse seiner Wirkungen auf die ganze Welt macht.

Hinter der Eurozentrismuskritik verbirgt sich kein heimlicher Teutonozentrismus, diesem Erbübel des deutschen Provinzialismus, sondern die Kritik an den verengten Perspektiven folgt aus einer veränderten Wahrnehmung der Welt nach Auflösung der Blockkonfrontation.

Im 19. Jahrhundert etablierte Wahrnehmungsmuster haben den Blick auf die Gegenwart verstellt; es ist Zeit, sie beiseitezuräumen. Aber das sollte nicht durch Ignoranz gegenüber dem Alten und Veralteten geschehen, sondern durch historische Reflexion und veränderte Selbstwahrnehmung.

Eine bewundernswerte Resistenz gegen akademische Modeerscheinungen hat Jürgen Osterhammel in einer Reihe von glasklaren begriffsschärfenden Aufsätzen in Fachzeitschriften bewiesen.

Nun zeigt er es allen in seinem neuen Werk: Weltgeschichte ist nicht nur möglich, sondern auch nötig, um die veränderte Welt begreifen zu können.

Dem Verlag ist zu einer publizistischen Tat wie dieser nur zu gratulieren; wenn man etwas monieren wollte: Dieses Buch hat mehr als einen Lesefaden verdient. Mindestens zwei – einen für den laufenden Text, einen anderen für die Anmerkungen. Alles, was von diesem Autor kommt, ist es wert, aufmerksam aufgenommen zu werden.

Fotohinweis:Jürgen Osterhammel: „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“. C. H. Beck Verlag, München 2009, 1.568 Seiten, 49,90 Euro