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Archiv-Artikel

Die Historie und das Leben

Frederick Taylor sorgte 2004 für Aufsehen mit seinem Buch über Dresden als legitimes Angriffsziel im II. Weltkrieg. Nun hat er ein Buch über die Berliner Mauer geschrieben, das große Politik und kleine Begegnungen verbindet

VON INGEBORG SZÖLLÖSI

Im Kant- und Schiller-Jahr fühlt sich jeder Verleger berufen, seinen Kant und Schiller zu präsentieren. Im Jubiläumsjahr „20 Jahre Mauerfall“ schreit der Buchmarkt nach dem ultimativen Mauerbuchangebot. Umso erfreulicher, dass der englische Historiker Frederick Taylor sein Buch „The Berlin Wall. 13 August 1961 – 9 November 1989“ bereits 2006 in London veröffentlichte. Die deutsche Übersetzung von Klaus-Dieter Schmidt ließ viel zu lange auf sich warten, aber nun endlich, pünktlich zu Beginn des Jubiläumsjahrs, erschien sie beim Siedler Verlag.

„Sand“, „Blut“, „Draht“, „Beton“, „Geld“ – in fünf Kapiteln führt uns Taylor mit kinematografischer Präzision Bilder vor Augen, die einen geradezu anspringen. Plastisch ist die Sprache, authentisch die Geste, lebendig die Geschichten über die Geschichte der Berliner Mauer.

Ein dreizehnjähriger Junge wird an einem Wochenende im August 1961 vor einen Fernseher gesetzt, er soll abgelenkt werden, den Tod seines Vaters nicht mitbekommen. Das Kind sieht „flackernde Schwarz-Weiß-Bilder einer Großstadt. Wütende Menschen, Männer mit Gewehren und Stacheldraht. Vielleicht ein oder zwei Panzerspähwagen. Die Erinnerung ist etwas verschwommen?“

Was nicht verschwommen ist, ist „das starke Gefühl von Abschied und Trennung“: „Der Tag, an dem die Berliner Mauer gebaut wurde, markierte für mich wie für viele Millionen andere Menschen das Ende eines Lebensabschnitts und den Beginn eines neuen, schwereren.“ Mit 17 reist der Londoner Jugendliche nach Berlin, in jene Stadt, die in der Nacht geteilt worden ist, als sein Vater starb: „Ich erinnerte mich an die Bilder aus jener Nacht im Jahr 1961, auch wenn sich die Stadt, als ich sie wirklich sah, ganz in Farbe präsentierte.“ Als Student der deutschen Geschichte und Sprache unternimmt er noch einige Reisen in die geteilte Stadt. Der Erwachsene wird nie aufhören, sich zu erinnern, und lässt uns daran teilhaben: mit diesem Buch, das zum Genre der „historischen Sachbücher“ zählt, sich aber wie lyrische Prosa liest.

Trotz aller subjektiven Resonanz, die das Thema in ihm auslöst, bleibt der Historiker Taylor „poetischer Realist“ und lässt die Geschichte der Mauer mit den Anfängen Berlins als „Sumpfstadt“ beginnen: „Berlin, die Mauer-Stadt, war schon immer eine seltsame Metropole gewesen, eine Fischer- und Händlersiedlung auf sandigem, morastigem Boden.“ Auf nur dreißig Seiten komprimiert er die Zeit vom 14. Jahrhundert bis zum 1. Mai 1945, wo Walter Ulbricht mit ehrgeizigen Plänen aus Moskau die deutsche Hauptstadt auf Seite 57 betritt und sie erst mit 77 Jahren, auf „Wunsch“ von Leonid Breschnew, auf Seite 418 verlässt. Die östliche Spielwiese verbleibt in den Händen der Honeckers, Schalck-Golodkowskis, Mielkes, Krenz’, Stophs, Modrows, Schabowskis.

Hauptakteure auf der „anderen Seite“ sind auch nicht wenige: Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl und die ganze Armada der Alliierten, ihrer Präsidenten, Generäle, Außenminister und Journalisten. Taylor lässt kein historisches Detail aus, vergisst jedoch in keinem der Kapitel, dass sich das „Mysterium am Hauptbahnhof ereignet“, und verflicht die große Geschichte mit den vielen Geschichten des „kleinen Mannes“.

Brisant ist die „Neue Ostpolitik“ des Kanzlers Willy Brandt, aber genauso ergreifend ist das, was Till am Sonntag, den 13. August 1961, unterwegs von seinem Onkel im Ostteil zu seiner Mutter im Westteil der Stadt, durchlebt, oder das, was Klaus widerfährt: 30 Jahre lang muss er, um diejenige, mit der er ein idyllisches Augustwochenende verbracht hatte, wiederzusehen, warten – nach langen Jahren der Haft, wo Gefangene auf düsteren Korridoren mit dem „Gesicht zur Wand“ zum Verhör gejagt wurden.

Humorvoll lässt Taylor François Mauriacs Bonmot „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei davon habe“ einfließen, fast lässt es die bittere Realität, die dahinter steht, vergessen: Die Westmächte lassen den Mauerbau zu, die Berliner sind allein. „Rette sich, wer kann!“, heißt es von nun an. Die Fluchtaktionen in der Bernauer Straße entwickeln sich „zu einem menschlichen Drama, dem die ganze Welt zusah“. Das Drama endet erst im Herbst 1989, als die Massenkundgebungen und Flüchtlingsströme beweisen, dass ein System, das „zu seiner Durchsetzung Gewehre und Stacheldraht benötigte, nicht wert war, erhalten zu werden“.

„Hunderttausende normale Ostdeutsche auf der Straße“ wollen den Wandel. Nach einer „ungeschickten Pressekonferenz und einer westlichen Medienkampagne hatte sich eine Revolution abgespielt, eine der schnellsten und unblutigsten der Geschichte. Ihr folgte die größte, wildeste Straßenparty, die die Welt jemals gesehen hat. Und vielleicht auch der größte Kater.“ Und der ist 2009 noch immer nicht vergangen.

Das 576-seitige Werk Taylors legt Seite um Seite Zeugnis ab von dem, was Friedrich Nietzsche in seinem Essay „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ als „höchste Kraft der Gegenwart“ betrachtet. Die historische Gerechtigkeit, schreibt der Philosoph, sei eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergrabe. Ein echter Historiker dürfe deshalb das Vergangene nur aus der „höchsten Kraft der Gegenwart“ deuten. Und das ist Taylor gelungen: der Geschichte die Tiefe und Einfachheit von Geschichten zu verleihen.

Fotohinweis:Frederick Taylor: „Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989“. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Siedler Verlag, München 2009, 580 Seiten, 29,95 Euro