: Zeitmaschine Kino
Zeitunterschiede und Korrespondenzen: „What Time is it There“ vom „Der Fluss“-Regisseur Tsai Ming-liang startet nun auch in Hamburg
von ECKHARD HASCHEN
Es mag etwas weit hergeholt erscheinen, bei Tsai Ming-liangs What Time is it There an Bruno Barrettos vor kurzem angelaufenen Flight Girls zu denken. Hier eine minimalistische Studie über Einsamkeit, dort eine romantische Komödie in Hollywood-Manier. Aber außer dass in beiden Filmen als Schauplatz Paris vorkommt, spielt in beiden eine Uhr eine entscheidende Rolle, die zwei verschiedene Zeitzonen anzeigen kann. Interessant ist, wie unterschiedlich Barretto und Tsai diesen Gegenstand einsetzen, und wie dieses ihre vollkommen gegensätzlichen Erzählweisen charakterisiert.
In Flight Girls hat die Uhr die Funktion, das ohnehin schon enge Uhrwerk der Erzählung noch mehr zu verzahnen. Da bekommt die von Gwyneth Paltrow gespielte Stewardess von ihrem Freund im heimischen Cleveland eine solche Uhr geschenkt, Immer, wenn sie darauf schaut, soll sie an ihn denken und sofort wissen, wie spät es bei ihm gerade ist. Als „implant of object“ bezeichnen Drehbuch-Doktoren dies, das schließlich sein „payoff“ erlebt, als sie an Weihnachten in Paris in dem Moment merkt, wie sehr er ihr fehlt, als sie auf ihre Uhr schaut.
In What Time is it There dagegen löst eine solche Uhr die Andeutung einer Geschichte überhaupt erst aus: Hsiao-kang, der als fliegender Händler auf den Straßen von Taipeh Uhren verkauft, trägt so eine, die er der Kundin, Shiang-chyi, die im Begriff ist, nach Paris zu fliegen, nach einigem Zögern verkauft. Die kurze Begegnung verändert Hsiaos Alltag von Grund auf: Wie von einem unerklärlichen Drang getrieben, beginnt er nach und nach alle erreichbaren Uhren auf mitteleuropäische Zeit umzustellen. Hsiaos Mutter wiederum deutet den veränderten Zeigerstand der Wohnzimmeruhr als Zeichen für die Wiederkehr der Seele ihres toten Ehemannes, die einen anderen Tagesryhtmus habe, und passt sich diesem konsequent an.
Sieben Stunden beträgt der Zeitunterschied zwischen Taipeh und Paris, wo Shiangs Alltag kaum weniger von Einsamkeit geprägt ist, als der von Hsiao in der Heimat. Aber zwischen beiden entstehen Korrespondenzen: Während er sich auf Video Sie küssten und sie schlugen ihn anschaut, begegnet sie Jean-Pierre Leaud, dem inzwischen gealterten Hauptdarsteller aus Truffauts Film. Wie Leaud für Truffaut, vor denen sich Tsai hier verneigt, kann man auch Lee Jang-Sheng, den Tsai hier schon zum fünften Mal einsetzt, als Alter Ego des Regisseurs bezeichnen. Das Kino als Zeitmaschine zu benutzen, heißt für Tsai Ming-liang aber noch lange nicht, seinen charakteristischen ruhigen Stil aufzugeben. In langen, festen Einstellungen verdichten sich die Gefühle seiner Figuren zu Spiegelbildern ihrer Seele.
28.9., 4. + 13.10., 17 Uhr, 3., 10., 11. + 14.10., 19 Uhr, 30.9., 1., 7. + 12.10, 21.15 Uhr, Metropolis