: Der Dichter und das Leben
Überall Esras: Der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst darf nach einer einstweiligen Verfügung nicht aus seinem neuen Roman „Meere“ vorlesen oder vorlesen lassen
Nun hat es nach Maxim Biller schon wieder einen Schriftsteller erwischt, und spontan beschleicht einen die Ahnung, dass einstweilige Verfügungen gegen Romane und Schriftsteller in Kürze inflationär ausgestellt werden: Der Berliner Schriftsteller Alban Nikolai Herbst darf nach einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts Berlin und unter Androhung von bis zu 250.000 Euro Ordnungsgeld nicht mehr öffentlich aus seinem neuen Roman „Meere“ vorlesen oder vorlesen lassen. Eine Exfreundin von Herbst sah sich nach der Lektüre des Romans in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt und hatte gegen die Veröffentlichung des Buches geklagt. Bislang richtet sich die einstweilige Verfügung allein gegen öffentliche Lesungen aus dem Buch, der Mare-Verlag, wo „Meere“ erscheint, darf das Buch verbreiten und ausliefern.
Wer die bisherigen Bücher von Herbst kennt, dürfte sich etwas wundern: Ausgerechnet Herbst, der früher gern mal erklärte, selbst gar nicht zu schreiben, da er nur den Texten eines gewissen Hans Deters sozusagen seinen Körper leiht? Ausgerechnet Herbst, der sich bisher in Büchern wie „Wolpertinger oder Das Blau“ und „Thetis. Anderswelt“ damit hervorgetan hatte, weitschweifig und raumgreifend Fantasiewelten sowie Menschen-wie-nicht-von-dieser Welt zu erfinden, soll die Persönlichkeitsrechte eines Menschen verletzt haben, und möglicherweise auch noch so, dass ein jeder Leser diese Person als Diejenige-welche aus Herbsts Leben erkennt?
Herbsts Roman „Meere“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem älteren Maler namens Fichte und der jungen indischstämmigen Deutschen Irene Adhanari und enthält Sätze wie „Sie war so intim dann, so grenzenlos selbstbewusst, selbstverliebt; selbst wenn sie masturbierte, war sie nicht inniger mit sich als in solchen Momenten“.
In der Figur des Malers Fichte aber versucht Herbst erstmals auch in einem Roman die eigene Lebensgeschichte zu erkunden, die Geschichte der Enkel und ihren Umgang mit der Schuld der Großeltern, und er fragt: Wie spiegelt sich das Leben der Großeltern in denen der Enkel?
Eigentlich heißt Herbsts Romanfigur Fichte denn auch Julian v. Kalkreuth, den Künstlernamen trägt v. Kalkreuth wegen der ihn belastenden Nazivergangenheit seines nach dem Krieg zum Tode verurteilten Großvaters Wernher v. Kalkreuth. Alban Nikolai Herbst wiederum, geboren 1955 als Alexander v. Ribbentrop, ist der Großneffe des durch die Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilten Nazi-Außenministers v. Ribbentrop.
Namen, Verweise und Allegorien, Literatur und Leben: Die Frage, wo die Freiheit der Kunst endet und der Schutz der Persönlichkeit anfängt, sie wird uns wohl zunehmend mehr beschäftigen. Und es könnte gut sein, dass sie nie abschließend beantwortet wird. Wo man aber als Leser sowieso immer mit einigen autobiografischen Einfärbungen rechnet (und sich nicht weiter darum kümmert: Um das Werk, Leute, das Werk, geht es doch!), so wird man auf die 21-jährige Irene nach einem Urteil wie diesem neugierig gemacht: So, so, eine Exfreundin von Herbst, das ist jetzt aber interessant.
GERRIT BARTELS