piwik no script img

Archiv-Artikel

Von einem Jetzt zum nächsten

Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt. Ein Feuilleton, das sich als Teil eines Hochkultur-Diskurses begreift, läuft in die gleiche Falle, die schon der Literatur zum Verhängnis wurde. Es verschließt sich dem Leben und der Öffentlichkeit

Das Feuilleton ist der Ort für Exkursionen in die Mysterien der eigenen Kultur

von MORITZ BASSLER

„But the real news, the big thing, whether it’s in the magazines or the newspapers or on TV, is the now.“ Andy Warhol hat es geschafft, das emphatisch Gegenwärtige der Medien- und Warenindustrie in einem anderen System zu aktivieren, in dem der Kunst. Das Neue, so Boris Groys, ist nämlich „nur dann neu, wenn es nicht einfach nur für irgendein bestimmtes individuelles Bewusstsein neu ist, sondern wenn es in Bezug auf die kulturellen Archive neu ist“.

Die aus dem profanen Raum des Küchenschranks vertraute Campbell-Dose ist für den Galeriebesucher im Jahre 1960 ein Schock, seither aber fester Bestandteil unseres kulturellen Archivs. Der tödliche Unfall ist mit der nächsten Ausgabe der Tageszeitung vergessen, sein Siebdruck-Monument jedoch wird von der Gesellschaft valorisiert und folglich überführt in eine ewige Zeitgenossenschaft, in der das Pathos des Augenblicks aufgehoben ist.

Lässt sich dieses Modell auf das Verhältnis von Literatur und Feuilleton übertragen? Dergestalt, dass das Feuilleton von einem Jetzt zum nächsten springt, eine literarische Praxis aber, die feuilletonistische Verfahren zur Produktion von Romanen einsetzt, diese Flüchtigkeit in haltbare Einträge ins kulturelle Archiv ummünzt? Die Literatur von Autoren wie Thomas Meinecke, Joachim Lottmann, Thomas Kapielski, aber auch Christian Kracht, Sibylle Berg oder Benjamin von Stuckrad-Barre beruht ja auf einer Adaptation feuilletonistischer Schreibweisen.

Allerdings arbeitet bereits das Feuilleton selbst unter doppelter Bedingung: Seinem Aktualitätsbezug steht eine gewisse Freistellung vom reinen Informationszwang der übrigen Zeitungsteile gegenüber. Es darf einerseits mit einem Leser rechnen, der die Enzyklopädie des Augenblicks kennt und bei der Lektüre aktiviert. Andererseits schätzt der Feuilletonleser ein gewisses Maß an schöpferischer Sprachgestaltung, an rhetorischem Überschuss. Feuilletons drechseln äußerst kunstvolle und damit potenziell dauerhafte Syntagmen vor einem je aktuellen und damit potenziell flüchtigen paradigmatischen Hintergrund. Das ist der Grund, weshalb sie sich so gut zur Erstvertextung von Gegenwartsbefunden eignen. Nur besteht eben die Gefahr, dass diese Erstvertextung, so gelungen sie sein mag, nicht ins Archiv kommt und also vergessen wird.

In den Online-Archiven der Tageszeitungen lässt sich halt nur nach Sachthemen recherchieren; für originelle Formulierungen und Texturen, für gelungene Texte gibt es leider noch keine Suchbefehle (außer vielleicht den Autornamen). Dagegen werden Sachbezüge im Archiv der Kunst und Literatur allein dadurch auf Dauer gestellt, dass sie gut vertextet, Teile eines aufbewahrenswerten Kunstgebildes sind. Die langwierige Rückreise eines archaischen Kriegsteilnehmers, der 16. Juni 1904 in Dublin oder die Brausepulver-Tütchen der Vierzigerjahre verdienten für sich genommen kaum mehr Pathos als andere Augenblicke. Sie sind allein deshalb fest in unser kulturelles Langzeitgedächtnis eingeschrieben, weil Homer, Joyce bzw. Grass sich ihrer angenommen haben. Und es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass Meinecke, Goetz oder Stuckrad-Barre einen ähnlichen Archivierungseffekt bewirken für ehemalige Träger von Augenblickspathos, etwa die Gender-Theoreme Judith Butlers, den Rave oder den Chrunchips-Song. Sollte das so sein, dann jedoch nicht durch ihre Feuilletons. Deren Qualität ist zwar in Bänden wie „Mode und Verzweiflung“, „Der gelbe Bleistift“, „Gold“ oder „Remix“ bestens dokumentiert, doch gelten offenbar erst die traditionellen literarischen Gattungen als kanonisierbar und archivwürdig, kurz: als Kunst.

Das ist doch zumindest merkwürdig. Hat nicht die E-Literatur, der dieser Gattungskanon entstammt, den Anspruch, ein gewichtiges Medium unseres kulturellen Langzeitgedächtnisses zu sein, längst verspielt? Wer außerhalb des Kulturbetriebes im engeren Sinne hat vor dem Boom der Popliteratur Ende der Neunziger schon freiwillig deutsche Gegenwartsliteratur gelesen? Deren feuilletonferne Schreibweisen wollten ihren Anspruch auf Zeitlosigkeit ja gerade dadurch manifestieren, dass sie auf die Verwendung von Vokabular aus der Medien-, Waren- und Popwelt möglichst vollständig verzichteten. Sie wollten unmittelbar im Status von Klassikern in die Welt treten, ohne sich mit den trivialen, anrüchigen und flüchtigen Gegebenheiten des profanen Raums zu beflecken, das heißt aber auch: ohne besagte Archivierungsleistung von Gegenwart zu erbringen. Sofort ein Kafka, Goethe, Shakespeare sein – ein Irrtum, auch nach Maßgabe neuerer kulturwissenschaftlicher Literaturwissenschaft, die im Gegenteil intensive Zeitbezüge gerade im Werk unserer Klassiker zutage gefördert hat (man denke an Greenblatts „Verhandlungen mit Shakespeare“).

Man kann die Verweigerung eines zeitgemäßen Vokabulars als ein unbeholfenes Mittel kultureller Distinktion belächeln – auf Dauer aber ist sie für Literatur fatal. Die Grenzen unserer Sprache sind bekanntlich auch die Grenzen unserer Welt, und eine Literatur, die ihre Grenzen gegenüber dem dominanten System der Kultur dicht macht, disqualifiziert sich als Medium kultureller Archivierung.

Unter der Hand haben die klassischen Künste ihre interdiskursive Funktion, Horte des kulturellen Gedächtnisses zu sein, verloren und sind selbst zu Spezialdiskursen geworden. Ihre ehemals vornehme Aufgabe, die Archivierung und Bewertung von Gegenwartskultur, haben in unseren westlichen Gesellschaften die Massenmedien übernommen. Und deren ureigener Maßstab der Valorisierung ist nicht mehr formale Qualität, sondern Aktualität, also die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu erregen. Die Künste selbst – das zeigt das Beispiel der Pop Art ebenso wie das der jüngeren Popliteraten – müssen sich zumindest partiell diesem Gesetz des Now verschreiben, wenigstens einmal Medienereignis werden, wenn sie den Anschluss an die Gegenwart nicht verlieren wollen.

Zumindest dem literarischen Buch aber ist – nach Ableben des „Literarischen Quartetts“ und trotz Scheck und Heidenreich – immer noch das Feuilleton jener Ort, an dem es seine 15 Warhol’schen Ruhmesminuten erhoffen darf. Die Frage wäre, ob heute tatsächlich das Feuilletonistische noch der Literatur bedarf, um valorisiert zu werden, oder ob nicht vielmehr umgekehrt die Literatur einer Valorisierung durch das Feuilleton bedarf, um überhaupt kulturell wahrgenommen zu werden.

Nun gilt freilich für das Feuilleton in abgemilderter Form Ähnliches wie für die Literatur. Zweifellos ist es in vielen Zeitungen der Ort, an dem Gegenwarts- und Populärkultur überhaupt diskursfähig wird. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Feuilletons zum Teil bis heute Horte ebenjenes abgekoppelten Hochkultur-Diskurses sind, der für die Literatur zur Falle geworden ist. Bereits das normale Feuilleton gilt ja als der weniger ernste Teil der Zeitung und verdankt diesem etwas dubiosen Status seine Freiheiten. Das gilt noch in Potenz für diejenigen Feuilletons der letzten Jahre, die tatsächlich literarisch relevant geworden sind. Sie erschienen häufig in den Outskirts der Presselandschaft, in Organen mit allenfalls mäßiger allgemein kultureller Autorität wie Titanic, Allegra, Spex, de:bug oder in Internetpublikationen wie den Höflichen Paparazzi. Wenn sie es bis in die größeren Blätter geschafft haben, dann zumeist auf die Witzseite, in Jugendbeilage, Sonntagsausgabe oder im kurzlebigen Berlin-Teil. Was man als Intellektueller halt so liest.

Popliteratur beruht auf der Adaptation feuilletonistischer Schreibweisen

Dass derart zu Kultur minderer Güte marginalisierte Schreibweisen der guten alten Literatur noch einmal zu einer erfolgreichen Frischzellenkur verhelfen würden, stand kaum zu erwarten. Dass es dennoch so gekommen ist, empfinde ich als ausgesprochen positives Zeichen. Zeugt es doch von dem verbreiteten Bedürfnis nach einem Medium, das innerhalb einer äußerst ausdifferenzieren Kulturlandschaft keine Spezialdiskurse bedient, sondern interdiskursiv eine Bestimmung der Bedeutung der Teile für das Ganze wenigstens versucht.

Die Popromane haben ja die Medien- und Warenwelt auch in Beziehung zu ihren Bewohnern gesetzt und gewertet. Wie Warhol haben sie Popkultur nicht bloß archiviert, sondern auch mitgeneriert. Das Feuilleton muss nicht selbst Pop werden, aber es ist seine Aufgabe, das Gelingen und Misslingen solcher Verhandlungen in den anderen Künsten reflektierend und urteilend zu begleiten, es für unser kulturelles Kurzzeitgedächtnis aufzubereiten. Und es ist darüber hinaus doch auch selbst ein ausgezeichneter Ort für solche negotiations, für ethnologische Exkursionen in die Mysterien der eigenen Kultur, wie Heinz Bude sie gefordert hat. Denn das ist doch Kultur: Kontakt, Verhandlung, Austausch zwischen den Disziplinen und medialen Sphären. Dass Literatur und Feuilleton sich dem stellen, dass sie ihre Repräsentations- und Analysekompetenz im permanenten Austausch mit der Populärkultur bewahren und schärfen, dass sie Kulturtagebuch führen, ist die Bedingung ihrer kulturellen Bedeutung überhaupt.

Was, so wurde auf einer Tagung des deutschen Feuilletons jüngst in Halle gefragt, hat die Rezension einer „Rigoletto“-Inszenierung eigentlich noch mit kritischer Öffentlichkeit zu tun? Die Antwort muss lauten: eine Menge! Schließlich wird sie davon handeln, was sich derzeit öffentlich repräsentieren lässt und wo Repräsentation auf gesellschaftlichen Widerstand stößt, sie wird Gender-Aspekte und aktuelle Konstellationen von Dominanz und Unterwerfung herausarbeiten, jene Attribute und Mechanismen diagnostizieren, über die Peer Groups sich und ihre Umwelt derzeit definieren. Kurz: schlichtweg alles, was eine kritische Öffentlichkeit jenseits institutionalisierter Staats- und Parteipolitik ausmacht, kann hier zur Sprache kommen.

Wie bitte? Die „Rigoletto“-Inszenierung gibt das nicht her, zumindest nicht in einem gesellschaftlich oder ästhetisch relevanten Maße? Ja, dann muss man halt über jene Phänomene schreiben, in denen all dies vorkommt: über das Rammstein-Video, die Bier-Reklame, die „Harald Schmidt Show“ oder den „Tatort“ von gestern, die neue Platte von Wir sind Helden oder die Rückkehr des Silben zählenden Prinzips in die Lyrik. Das Gemeinsame des feuilletonistischen Interesses liegt ja nicht im Kanonischen der kulturellen Gegenstände, sondern in ihrer Bedeutung für unser Leben und unsere Öffentlichkeit. Dies herauszustellen ist Kompetenz und Aufgabe des Intellektuellen.

Der Autor ist Professor of Literature an der National University Bremen. Sein Text ist die überarbeitete Version eines Vortrags, den er am vergangenen Wochenende bei der Feuilletontagung in Halle hielt