: Diskurs und Hoheit
Justizministerin Zypries verniedlicht im Caroline-Streit die Wirkung von Straßburger Urteilen als „Beitrag zum Diskurs“. Das ist falsch und feige
VON CHRISTIAN RATH
Die Überraschung war groß. Da hetzten Verleger und Chefredakteure in einer beispiellosen Kampagne tagelang („die Pressefreiheit ist bedroht“) gegen das Caroline-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) – und dann kommt die Justizministerin und begründet den Verzicht auf deutsche Rechtsmittel damit, dass das Straßburger Urteil gar nicht verbindlich sei, sondern nur ein „Beitrag zum Diskurs“ (siehe taz von gestern). Die Überraschung ist berechtigt, denn natürlich hat es erhebliche Folgen für die Bundesrepublik, wenn Urteile des EGMR missachtet werden.
Man kann dies an einem naheliegenden Szenario durchdeklinieren. Nehmen wir an, die Bunte druckt weiterhin Urlaubsfotos von Joschka Fischer mit seiner neuen Freundin Minu Barati, weil die Verleger vom Straßburger „Diskursbeitrag“ nicht überzeugt wurden. Und nehmen wir weiter an, auch die deutschen Gerichte wollen der Straßburger Linie nicht folgen. Dann würden sie die Klagen von Fischer/Barati ablehnen und das Bundesverfassungsgericht die Fotos weiterhin als Beitrag zur Meinungsbildung über die Lebensentwürfe von gesellschaftlichen Leitfiguren ansehen. Fischer/Barati würden dann Deutschland in Straßburg verklagen und erhielten Schadenersatz, weil an Urlaubsbildern kein legitimes öffentliches Interesse bestehe und hier das Recht auf Privatleben der Pressefreiheit vorgehe.
Das Beispiel zeigt: Der Straßburger Gerichtshof steht im Rang letztlich über dem Bundesverfassungsgericht, denn er kann dessen Urteile beanstanden und als Sanktion dafür der Bundesrepublik Schadenersatz auferlegen. Zwar sind Straßburger Urteile in der Wirkung schwächer als Karlsruher Entscheidungen, weil EGMR-Urteile keine Gesetzeswirkung haben und damit nicht direkt die deutsche Rechtslage ändern. Finanzpolitisch verantwortungsvolle Gerichte werden sich dennoch der Straßburger Rechtsprechung mehr oder weniger anpassen. Denn den Schadenersatz zahlen schließlich nicht die Verleger, sondern der Bundeshaushalt. Die These von der Unverbindlichkeit der Straßburger Urteile ist also Unfug. Auch früher hat die Bundesregierung mehrfach Rechtsmittel gegen EGMR-Entscheidungen eingelegt und diese eben nicht als unverbindlichen Diskursbeitrag angesehen.
Man könnte meinen, Zypries hat die These nur aufgebracht, um der inhaltlichen Diskussion auszuweichen. Immerhin war sie, wie mehrere Zeitungen übereinstimmend berichten, im Kabinett zuvor überstimmt worden. Sie und Wirtschaftsminister Clement waren dafür, Rechtsmittel gegen das Straßburger Urteil einzulegen. Die übrigen Minister, inklusive Kanzler Schröder, waren dagegen. Sie sind mit dem besseren Promi-Schutz offensichtlich einverstanden.
Es ist ohnehin ungewöhnlich, dass die Rechtsmittelfrage im Bundeskabinett beschlossen wurde. In früheren Fällen hat die Justizministerin der Regierung nur Bericht erstattet und dann selbst entschieden. Jüngstes Beispiel: das EGMR-Urteil, das die entschädigungslose Enteignung ostdeutscher „Neubauern“ beanstandete. Hier hat Zypries im April ohne Kabinettsbeschluss Rechtsmittel eingelegt.
Theoretisch könnte sich noch der Bundestag mit der Sache befassen und die Bundesregierung auffordern, ihre Meinung zu ändern. Doch ein solcher Beschluss, wenn er überhaupt zustande käme, wäre für die Regierung nur politisch relevant.
Dennoch ist die EGMR-Vorgabe nun nicht auf alle Zeiten zementiert. Wenn neue Verfahren nach Straßburg kommen, womit zu rechnen ist, kann die Regierung neu darüber entscheiden, ob sie doch noch Rechtsmittel einlegt und ein Urteil der Großen Kammer des EGMR anstrebt. Darauf wies auch das Bundesverfassungsgericht in einer internen Stellungnahme an die Bundesregierung hin. Eine schnelle Klärung wäre aber für alle Beteiligten hilfreich gewesen.