Geiselbefreiung endet im Chaos

BERLIN taz ■ Als der Sturmangriff begann, fingen die Angehörigen der Geiseln an den Absperrungen an zu weinen. Erst als die ersten zwei Mädchen mit blutverschmierten Kleidern auftauchten und in die Arme ihrer wartenden Mütter rannten, breitete sich unter den Familien die Hoffnung aus, dass es doch nicht zu einem Blutbad gekommen war. Geht man von diesen direkten Eindrücken des Korrespondenten der britischen Nachrichtenagentur Reuters aus, begann die Erstürmung der von tschetschenischen Kämpfern besetzten Schule von Beslan durch russische Sicherheitskräfte als scheinbar unkoordinierte, chaotische Aktion. Gewehrschüsse aus allen Richtungen hallten durch die Luft, während schließlich immer mehr Schulkinder auf die Straße rannten, zumeist halbnackt. Viele waren offensichtlich am Ende ihrer Kräfte und stürzten sich sofort auf Trinkwasserflaschen; andere hatten Wunden und standen unter Schock.

Hektik, Eile und Panik prägten die Bilder, die weltweit übertragen wurden. Denn was genau sich in dem Schulkomplex abspielte, konnte draußen niemand wissen. Immer wieder hörte man Explosionen. Geschossen wurde auch dann noch, als offizielle Stellen längst behaupteten, die Schule sei unter Kontrolle. Und später wurde deutlich, dass einige der Geiselnehmer geflohen waren – entweder in nahe Häuser oder ganz aus der Stadt.

Das gewaltsame Ende des Geiseldramas von Beslan kam just in dem Moment, als sich eine politische Lösung zu eröffnen schien – aber eine, die Russlands Behörden nicht gefallen hätte. Nordossetiens Präsident Alexander Dzasochow hatte erst in der Nacht zu gestern Angehörige der gefangenen Schulkinder getroffen, die in der Nähe der Schule ausharrten, und ihnen gesagt, es werde keine gewaltsame Erstürmung geben. „Ich sage Ihnen offen und ehrlich, dass Gewalt nicht erwogen wird“, behauptete Dzasochow. Er habe vielmehr die Anordnung, mit Tschetscheniens politischer Führung unter dem im Untergrund lebenden Präsidenten Aslan Maschadow Kontakt aufzunehmen. Dzasochow stand nach eigenen Angaben mit Maschadows in London lebendem außenpolitischen Vertreter Achmed Sakajew in Telefonkontakt. Maschadow, den Russlands Regierung sonst immer als Terroristen abtut und als Verhandlungspartner ablehnt, sei bereit, „ohne jede Bedingungen alle Anstrengungen zu unternehmen, um diese Kinder zu retten“, sagte Sakajew der britischen Nachrichtenagentur Reuters am Telefon – wenige Minuten bevor in Beslan die ersten Schüsse fielen.

Der genaue Ablauf der gewaltsamen Befreiungsaktion ließ sich zunächst nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Nach Berichten der russischen Nachrichtenagentur Interfax rückten russische Spezialkräfte auf das Schulgelände vor, nachdem einige der rund 40 Geiselnehmer versucht hätten, den Belagerungsring zu durchbrechen. Zuvor hätten die Behörden einen Krankenwagen in die Schule geschickt. Ein dpa-Bericht präzisiert, Mitarbeiter des Zivilschutzes seien nach telefonischer Absprache mit den Geiselnehmern auf den Schulhof gekommen, um dort die Leichen mehrerer Menschen zu bergen, die am Mittwoch bei dem Überfall auf die Schule getötet worden waren. Dabei seien innerhalb des Schulgebäudes Sprengsätze explodiert, was ein Loch in die Wand gerissen und fünf Geiselnehmer das Leben gekostet habe. Dann seien Schulkinder durch das Loch geschlüpft, woraufhin die Geiselnehmer schossen und dann die Sicherheitskräfte eingriffen. Ein russischer Armeesprecher sagte gegenüber BBC, man habe eigentlich verhandeln wollen, aber dann habe die Explosion den Angriff erzwungen. Die russische Nachrichtenagentur Tass wiederum meldete, die Soldaten hätten das Loch in die Mauer gesprengt, damit Geiseln fliehen könnten.

„Eine massive Explosion, dann Chaos“, fasste ein BBC-Berichterstatter die einzige sichere Erkenntnis über den Beginn der stundenlangen Gefechte zusammen. Jedenfalls war offensichtlich, dass die Geiselnehmer die Kontrolle über einige Geiseln verloren, bevor die russischen Soldaten die Schule besetzten. Das erklärte die wirren Szenen halbnackt herumrennender Kinder inmitten des Kugelhagels, während dichter Rauch aus der Schule aufstieg. Zugleich waren Sicherheitskräfte damit beschäftigt, panische Angehörige vom Kampfgebiet fernzuhalten. Militärhubschrauber kreisten über der Schule, drei Panzerfahrzeuge brachten Soldaten heran, und andere Militärangehörige beschlagnahmten Autos von Zivilisten. Nach Ende der Gefechte trugen Soldaten immer wieder neue Geiseln auf Bahren aus dem Gebäude heraus.

Die Zahl der Toten und Verletzten blieb unklar – kein Wunder, hatte doch schon die Zahl der Geiseln am Donnerstag zwischen 350 und 1.500 geschwankt. In der Schule selbst, die möglicherweise vermint worden war, blieben Leichen zurück – Dutzende, meldete zunächst Interfax; bis zu 100, sagte der britische Fernsehsender ITV unter Berufung auf einen Kameramann, weit über 150, meldeten schließlich russische und westliche Nachrichtenagenturen. Die meisten sollen beim Einsturz des Daches der Schule nach einer Explosion von den Trümmern erschlagen worden sein. Wenn das stimmt, ist folgende Aussage eines Sicherheitsbeamten gegenüber Tass eine Lüge: „Die Kinder, die in der Schule ausharrten, blieben unverletzt. Diejenigen, die verletzt wurden, waren die, die aus der Schule rannten und auf die die Kämpfer das Feuer eröffneten.“ Auch die Zahl der Verletzten stieg ständig an: erst 200, dann 250, dann 300, dann 400. Als das Krankenhaus von Beslan voll war, wurden verletzte Geiseln in andere Städte gebracht.

„Die Spezialkräfte taten alles, um das Leben der Geiseln zu schützen“, sagte ein Armeesprecher hinterher. Nach einem Erfolg drücken sich Armeesprecher normalerweise anders aus. D.J.

mit Reuters, AFP, AP, dpa, BBC