Triumph des Abwegs

Nur die Buhrufe verdämmern: Das Hannoveraner Publikum begrüßt Verdis „La Traviata“ mit Beifallsstürmen, obwohl doch Calixto Bieito inszeniert hat. Ob damit die Staatsoper auf den Weg des Erfolgs gefunden hat, ist noch nicht abzusehen

aus Hannover Benno Schirrmeister

Sie hat ihn gefickt. Violetta Valéry hat Alfredo bös hinters Licht geführt. Die Krankheit war fake. Natürlich trifft’s damit auch den Falschen. Aber Rache muss sein. Und so fällt sie nicht wie sonst immer zurück aufs Kanapee und verröchelt bluthustend an Schwindsucht, die Kameliendame, Verdis „La Traviata“.

Wahlweise als „Regieberserker“ (Deutschlandfunk) oder „Skandalregisseur“ (DPA) verschrien, hat Calixto Bieito die wunderbarste aller Herzschmerzopern in Hannover inszeniert. Seine kühnste Pointe: Die an den Konventionen gescheiterte Liebe zwischen Edelprostituierter und gut situiertem Sprössling wird nicht im Tode traurig überhöht. Stattdessen schnappt sich die „Vom-Pfad-Abgekommene“ – so der Titel zu Deutsch – die Hartschalenkoffer, macht sich auf den Weg. Ein Abweg? Müßige Frage: Die Frau triumphiert.

Vielleicht zum allerersten Mal gibt es daher keinen Bruch zwischen Bühnenwirklichkeit und Violettas kraftstrotzendem letzten Arioso-Ausruf „Oh gioia!“ (Oh Lust!). Das sich anschließende flotte Wegsiechen findet in Verdis Notentext keine Entsprechung: Bieitos Lesart erspart Natalia Ushakova das Problem, sich bei vollem lyrischem Volumen schwer lungenkrank anhören zu müssen. Und sie, die anfangs noch nicht mit ihrer Partie im Reinen schien, kostet’s aus. Sie schenkt die volle Stimme, strahlend, klar, sinnlich. Die Musik triumphiert.

Es hatte Buh-Rufe gegeben. Selbst noch während dieser Premiere kommt’s zum reflexhaften Ausstoß unmutiger u-Laute. Dass eine Hure auf der Bühne Strapse trägt, mag nicht jeder hinnehmen. Unverständlich für manche auch, warum Visconte Gastone in der großen Party-Szene das Lieblingsrequisit der antiken Komödie vorschnallt. Dabei wippt’s doch hübsch im Takt und hindert Christoph Rosenbaum nicht, das „Di madri noi sia mattadori“ klangschön und provokant ins lüsterne Gemenge zu singen. Doch die Empörung hält sich diesmal in Grenzen, verdämmert gar am Ende ganz, weil die große Mehrheit Sänger, Orchester und den einfühlsam dirigierenden Enrique Mazzola mit stehenden Ovationen feiert. Und sogar den Regisseur.

Das war nicht zu erwarten gewesen: In der Vorsaison hatten Bieitos Arbeiten hier noch blanken Hass entfesselt. Wenige nur mochten einsehen, dass es nicht unpassend ist, in Verdis Horror-Spektakel „Il Trovatore“ Blut fließen zu lassen, oder auch, dass es nahe liegt, für ein Stück über ein Sexmonster wie „Don Giovanni“ Pornografie zu zitieren.

Umso wichtiger der jetzige Premierenjubel – fürs ganze Haus. Denn Bieito darf als eine Art Agent Albrecht Puhlmanns gelten. Vor allem mit dessen Inszenierungen nämlich arbeitet der Intendant auf eine Umerziehung des Publikums zu dem einer Qualitäts-Oper hin. Bloß weg von der Haltung der Musiktheatermuseumsbesucher. Zählbar war dieses Unterfangen bislang nur als Misserfolg: Abokündigungen verursachen der Staatsoper nach eigener Prognose künftig pro Spielzeit Mindereinnahmen in Größenordnung von gut 1,5 Millionen Euro – ein erheblicher Beitrag zur Finanzkrise der Staatstheater GmbH. „Im Frühjahr muss ich einen Aufwärtstrend spüren“, hatte sich Puhlmann deshalb noch vor der „Traviata“-Premiere in die Pflicht genommen.

Ob deren Erfolg schon die Wende bedeutet, ist fraglich. Ungerecht wäre es, ihn als bloße Solidaritätsadresse zu verstehen, nachdem Zahlreiche in den vergangenen Wochen fürs Staatstheater auf die Straße gegangen waren. Die Inszenierung des Katalanen nämlich ist gelungen – und dabei keineswegs so „zahm“, wie die Agenturen vermelden, weil so wenig kopuliert wird. Vom Stück her gedacht mutet sie sogar weit mehr zu als die Vorgänger-Arbeiten: Alfredo, den Will Hartmann so herrlich blöde wie männlich wohltönend gibt, der Liebende, das Muster an Ehrlichkeit, verliert nicht nur die Violetta auf Nimmerwiedersehen. Er wird von ihr auch – zertreten. Seelendrama? Nicht mit Violetta: Die Oberfläche triumphiert. Treu geleitet von Puffmutter Annina Flora – atemberaubend: Leandra Overmann – schreitet die Sexarbeiterin davon: Eine Königin kehrt zurück. Die zuvor in prallen Tableaus aufgeblätterte Schickimicki-Welt wird sie jubelnd empfangen. Zu optimistisch ausgelassen deren perverse Verrenkungen , zu cool ihr von Ariane Unfried und Rifael Ajdarpašić entworfener Raum, zu fidel auch die Musik, als dass darin die Hölle vermutet würde. Doch, la traviata befindet sich auf dem richtigen Weg.