: Keine schnellen Erklärungsversuche
Der Band zum „Amoklauf in Erfurt“ liefert Material zum Nachdenken über den Zustand unserer Gesellschaft
Lähmendes Schrecken. Entsetzen. Es ist schwer, die treffenden Begriffe zu finden, um die Reaktionen auf den Amoklauf von Erfurt zu beschreiben.
Zur Erinnerung: Am 26. April 2002 tötet ein Gymnasiast erst 16 Menschen, anschließend sich selbst. In den darauf folgenden Tagen haben sich die Medien mit seitenlangen Berichten und Sondersendungen überboten. Aufgeregt gingen sie den Fragen nach: Wie konnte das geschehen? Und vor allem: Wer ist schuld? Niemand konnte den Experten und ihren schnellen Erklärungsversuchen entgehen. Die Medien, die Schule, der Verlust der Werte, Gewalt verherrlichende Videospiele, wie auf Knopfdruck wurde das Set allzu bekannter Deutungsmuster abgespult. Auch die Forderung nach einer Gesetzesverschärfung durfte natürlich nicht fehlen. Bereits wenig später kehrte wieder Normalität ein. Jenseits von Erfurt war die Welt wieder die alte.
Ereignis, entgrenztes Medienpalaver, Ermüdung und Vergessen – diesen Verlauf zu kritisieren wäre des Kulturpessimismus zu viel. Die öffentliche Verarbeitung und mediale Verwurstung eines solch singulären und außergewöhnlichen Ereignisses wie den Erfurter Amoklauf ist auch ein Lehrstück, wie Menschen auf sie einstürmende, höchst beunruhigende Nachrichten bewältigen. Reden, reden bis zur Erschöpfung. Das befreit und macht den Kopf wieder frei für den eigenen, begrenzten und unspektakulären Alltag.
Was bleibt, sind offene Fragen und die traumatischen Erinnerungen der Augenzeugen, die hilflos zurückbleiben. Das Berliner Archiv der Jugendkulturen geht diesen in seiner Publikation „Der Amoklauf von Erfurt“ nach. So berichtet die Schülervertreterin des Gutenberg-Gymnasiums in dem Kapitel „Bildersturm“, was es bedeutet, für Medienvertreter Zeitzeugin zu sein, wenn man erzählen muss, einem aber nur nach Heulen zumute ist. Eine Lehrerin skizziert in knappen Worten die Herausforderungen für eine Schulgemeinschaft, die in wenigen Minuten entwurzelt wurde.
Es ist den Herausgebern hoch anzurechnen, dass sie den Band nicht werbewirksam zum ersten Jahrestag des Ereignisses auf den Markt geworfen haben, ganz nach dem Motto: Hier sind die Antworten, auf die alle gewartet haben. „Der Amoklauf in Erfurt“ ist ein ruhiger Band, der vor allem Material für weiteres Nachdenken über den Zustand unserer Gesellschaft liefert. Dies gilt vor allem für den brillanten Essay von Reinhard Kahl „Zwischen Erfurt und Pisa. Fragen an das System Schule“. Eine klug durchargumentierte Generalabrechnung. Die deutsche Schule, so Kahl, demütigt, weckt Angst vor den Fremden und produziert eine infantile Gesellschaft, der es an erwachsenen Erwachsenen fehlt. Die wichtigste Lektion aus Pisa und Erfurt sei: endlich eine Kultur der Anerkennung zu entdecken und eine Offensive zum Abbau der verbreiteten Unkultur von Beschämung und Aberkennung zu starten.
Wer in „Amoklauf in Erfurt“ zum Beispiel nach einem Psychogramm des Täters Robert Steinhäuser sucht, das die Tat nachvollziehbar machen würde, wird enttäuscht. Michael Siegel, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen, dessen Sohn nur knapp dem Schlimmsten entgangen ist, stellt nur fest: „Der Täter kam aus unserer Mitte, dessen Nöte und Sorgen, die dann vielleicht zum Motiv der Tat wurden, offensichtlich keinem vorher aufgefallen sind.“ Für manchen mag das zu wenig sein. Geduldige Leser, die vor der Vielschichtigkeit individueller und gesellschaftlicher Prozesse nicht zurückschrecken, werden hingegen versorgt mit fundierten und aufklärerischen Abhandlungen zu Amoktaten aus kriminalpsychologischer Sicht und zum Mythos der Video-Ballerspiele, die schnell für Gewalttaten verantwortlich gemacht werden. Er weiß nach der Lektüre viel über das komplexe Zusammenspiel von Faktoren in Elternhaus, Schule, Peergroup und Medien. Aber auch, dass dieses Wissen keineswegs vor dem nächsten Amoklauf schützt. EBERHARD SEIDEL
Archiv der Jugendkulturen (Hg.): „Der Amoklauf von Erfurt“, 108 Seiten, im Eigenverlag, Berlin 2003, 15 €