Frisch servierte Gerechtigkeit

Lidokino (5): Quentin Tarantinos Einfluss. Und die Filme von Jia Zhangke und Arnaud Desplechin im Wettbewerb

Quentin Tarantino geht ins Kino. Kurz bevor die Vorstellung in der kleinen Sala Volpi beginnen wird, raschelt rechts von der Leinwand ein Vorhang, und zwei Saaldienerinnen geleiten den Regisseur zu seinem Platz. Gerade hat Mark Damon, der in Anmut gealterte Hauptdarsteller von „I cento cavalieri“, einen entscheidenden Satz zum Verständnis der Retrospektive „Italian Kings of the Bs“ gesagt: „Wir hielten diese Filme damals für unbedeutend. Aber durch Leute wie Quentin haben wir gemerkt, dass sie relevant sind.“ Eine Lektion in Sachen Strukturalismus wird hier en passant erteilt: Obschon fertig gestellt, verändert sich ein Gegenstand durch die Art, wie er interpretiert wird.

Die Filme der Retrospektive, für die Tarantino sowie Joe Dante eine Patenschaft übernommen haben, haben durch Filme wie „Kill Bill“ ein neues Gesicht bekommen, und auch„Kill Bill“ bekommt ein neues Gesicht, wenn in „I cento cavalieri“ („Die hundert Reiter“, 1964) von Vittorio Cottafavi der Satz fällt: „Gerechtigkeit ist ein Gericht, das man am besten frisch aufträgt.“

Um Kopien, Zitate und Transfers geht es auch in Jia Zhangkes schönem Wettbewerbsbeitrag „Shijie“ („Die Welt“). Angesiedelt ist der Film in einem Themenpark am Rand von Peking. Dieser Park, „Die Welt“, versammelt auf einem weitläufigen Areal maßstabsgetreue Nachbildungen von Sehenswürdigkeiten. Es gibt einen Eiffelturm, eine Akropolis, einen schiefen Turm von Pisa: ein Raum-Zeit-Diskontinuum, das die Idee des Museums fortführt. So wie man dort die Epochen und geografischen Zonen durchkreuzt, indem man den Fuß über die Schwelle zwischen zwei Räumen hebt, so wandert man im Themenpark von den ägyptischen Pyramiden zur Londoner Tower Bridge.

Jia Zhangke verfolgt in episodischer Form die Hostessen und Wachmänner, die in diesem Park arbeiten. Es sind Zugereiste, Menschen, die die brachliegenden Industrie- und Bergbauregionen des Nordens verlassen haben, um in Peking ein Auskommen zu finden. Aus wenigen Strichen entsteht das Bild einer Gesellschaft im Wandel. Voller Dynamik ist der Film in den Passagen, in denen er sich animierte Sequenzen einverleibt oder die elektronische Musik die Bilder vor sich hertreibt; dann wieder ruht sich die Kamera Yu Lik-Wais in statischen Einstellungen aus. Ob sie sich der Melancholie hingeben will, die entsteht, wenn der Einzelne dem Tempo der Veränderungen nicht standhält?

Ein weiterer herausragender Film im Wettbewerb ist „Rois et reine“ („Könige und Königin“). Der Regisseur Arnaud Desplechin unternimmt eine wunderbare Passage durch die Welt und die Köpfe zweier Menschen. Nora (Emmanuelle Devos) und Ismael (Mathieu Amalric) waren einst verheiratet. Doch das ist schon eine Weile her. Der Film folgt beiden, zunächst unabhängig voneinander, dann verhakeln sich ihre Geschichten, aber nur lose – so, dass sich der Knoten leicht wieder öffnet. Noras Vater liegt im Sterben – in Grenoble; Ismael wird derweil in Paris in die Psychiatrie eingewiesen.

Das sind die Eckpfeiler, von ihnen aus entwickelt Desplechin einen ganz eigenen Kosmos. Die Figuren durchwandern existenzielle Situationen, ohne dass der Film dadurch schwer würde. Gefilmt ist das mit großer Dynamik; die Musik spielt eine wichtige Rolle – in einer hinreißenden Szene etwa performt Ismael in der Gruppentherapie als Breakdancer. Die Kamera Eric Gautiers tollt herum wie ein junger Hund. Reißschwenks, rasche Schnitte, Jump Cuts: Sie lässt nichts aus. Bei Streitgesprächen umkreist sie die Figuren, die selbst auch in permanenter Bewegung sind; ständig wechselt sie den Blickwinkel. In einem anderen Kontext könnte diese Unruhe leicht nerven, hier zieht sie in den Film hinein wie ein Sog.

CRISTINA NORD