: Der Kandidat, der rennt und rennt
AUS PARIS DOROTHEA HAHN
Nicolas Sarkozy rennt. Ganz Frankreich hält Sommerschlaf. Er ist im Einsatz. Trifft Bauern, die mehr Geld für ihre Tomaten verlangen. Fischer, die wegen hoher Treibstoffpreise einen Hafen blockieren. Restaurantbesitzer, denen die Steuern nicht passen. „Ich kümmere mich“, verspricht er allen, „ich erledige das.“ Jeden Abend erscheint er so auf dem Bildschirm. Jedes Mal fragen ihn Journalisten, ob er „Kandidat“ sei. Sarkozys kleiner, drahtiger Körper vibriert. Grinsend sagt der 49-Jährige: „Ich bitte um etwas Geduld.“
Jetzt, Anfang September, ist die Sarkozy-Sommerschau vorbei. Sie endet mit einem Besuch im Élysée-Palast. Auf dem Höhepunkt des Geiseldramas im Irak sprechen der Staatspräsident und sein Finanzminister nicht über die Freilassung der beiden Journalisten. Sondern über den nächsten Schritt in der Karriere von Sarkozy. Der Staatspräsident erklärt, dass er die Kandidatur unterstützt. Damit ist es offiziell: Sarkozy wird Chef der rechten Sammlungsbewegung UMP.
Jacques Chirac hat lange versucht, Sarkozy zu stoppen. Damit ist er gescheitert. An seiner eigenen Parteibasis. Jetzt öffnet Chirac ihm den Weg an die Spitze seiner Partei. Im Gegenzug muss Sarkozy als Finanzminister zurücktreten. Allerdings erst im November. Rechtzeitig zu der parteiinternen Wahl, die eigentlich gar keine ist, weil es keinen ernst zu nehmenden Gegenkandidaten gibt. Bis dahin darf Sarkozy noch den französischen Haushalt 2005 vorstellen. „Mein Budget“, sagt Sarkozy. Er betreibt Politik in der Ichform.
Die UMP befindet sich in einem desolaten Zustand. Zwei miserable Wahlergebnisse – unter 23 Prozent – im Frühling. Flügelkämpfe. Mitgliederschwund und ein undefinierbares Programm schwächen die „Union für eine populäre Mehrheit“. Aber sie hat weiterhin die absolute Mehrheit im Parlament. Staatspräsident Chirac hat die Partei 2002 gründen lassen. Direkt nach einem 82-Prozent-Wahlsieg, der nicht nur ihm, sondern auch seiner Partei eine glänzende Zukunft zu verheißen schien.
Für Sarkozy ist die Wahl zum Chef der UMP nur eine Zwischenstation. Er strebt das höchste Amt im Staate Frankreich an. „Ich denke daran. Nicht nur beim Rasieren“, sagt er allen, die ihn fragen. Eine Partei leiten, das bedeutet, Abgeordnete im Parlament zu haben, Mitglieder an der Basis und ein Budget. Im Falle der UMP liegt Letzteres bei 33 Millionen Euro im Jahr. Keine Partei hat mehr. Alle Staatspräsidenten der V. Republik haben eine Partei als Vehikel zur Macht benutzt. Giscard d’Estaing, Mitterrand und Chirac haben ihre Parteien selbst gegründet. Sarkozy wird eine übernehmen.
Am Wochenende, bei der Sommeruniversität der UMP in dem ostfranzösischen Bergort Avoriaz, bereiten 1.000 junge Parteimitglieder Sarkozy einen triumphalen Auftritt. Aus Chiracs engem Kreis sind nur wenige dabei. Sie wollen den Kandidaten auf Loyalität zum Staatspräsidenten verpflichten. Der nunmehr offizielle Kandidat verspricht seiner Partei: „Ich bin der Garant der Einheit.“ Einfach ist ihm das nicht zu glauben. Chirac, der 22 Jahre ältere Politiker, hat Sarkozys Karriere von Anfang an bestimmt. Zunächst als Freund und Förderer des ehrgeizigen jungen Mannes. Sarkozy wird Chef der Parteijugend. Trauzeuge von Chiracs Tochter Claude. Minister. 1995 kommt der Bruch. Da unterstützt Minister Sarkozy nicht Chirac auf dem Weg in den Élysée-Palast, sondern dessen rechten Herausforderer. Chirac gewinnt.
Für Sarkozy, der den Wahlkampf des unterlegenen Balladur organisiert und schon auf das Amt des Premiers hoffte, beginnt ein siebenjähriges Abseits. Wenn er bei Parteiversammlungen auftaucht, gibt es Pfeifkonzerte. Von nun an gilt er als politischer Vatermörder.
Doch Sarkozys Weg an die Macht wurde nur abgebremst. Nicht gestoppt. Seine Niederlage von 1995 nutzt er heute als Argument, um menschliche Reife zu beweisen. „Ich mag keine Gesichter ohne Narben“, sagt er.
Politisch setzt Sarkozy auf die Rechtsliberalen und die Proatlantiker. Atmosphärisch seine Jugend. Bei Chiracs Wiederwahl 2002 hat Sarkozy es geschafft, sich unentbehrlich zu machen. Chirac muss ihn in die Regierung holen. Sarkozy wird Innenminister und Nummer zwei der Regierung. Er muss das wichtigste Wahlkampfversprechen des Präsidenten – die innere Sicherheit – in die Praxis umsetzen.
Zwei Jahre lang rennt Sarkozy als Innenminister durchs Land. Schüttelt 26.000 Hände von Polizisten und ähnlich viele von Feuerwehrleuten. Kämpft gegen Prostituierte, die „aktiv anschaffen“, und gegen Jugendliche, die in Hauseingängen herumlungern. Lässt geschlossene Erziehungsanstalten bauen und führt eine monatliche Pressekonferenz ein, bei der er die Kriminalitätsstatistiken als persönliche Erfolgskurve vorstellt. Bei ihm gerät jeder Auftritt zur Schau. Jeder Ausflug zu einer Presseerklärung. Kein Regierungsmitglied ist häufiger in den Medien. Schon gar nicht der Regierungschef.
Die Spannung zwischen Sarkozy, der Präsident werden will, und Chirac, der vielleicht auch noch nach 2007 Präsident bleiben will, ist spürbar. Sarkozy spricht über den Präsidenten, ohne ihn namentlich zu nennen, als wäre er ein politischer Gegner. Der Präsident ignoriert Sarkozy, als wäre er nicht sein Minister.
Sarkozy ist ein Produkt der rechten Sammlungsbewegung von Chirac. Um sich ein eigenes Profil zu geben, macht er eine Regel zu seinem unausgesprochenen Programm: „das Gegenteil von Chirac“. Was immer der Präsident sagt – der Minister vertritt das Gegenteil. Chirac ist gegen den Irakkrieg? Sarkozy versteht die US-Amerikaner. Chirac will das Kopftuch verbieten? Sarkozy hält das für problematisch. Chirac favorisiert die Beziehungen zu Schröder? Sarkozy bewundert seine internationalen Gegenspieler, von Berlusconi über Blair bis zu Rice. Chirac betrachtet die 35-Stunden-Woche als soziale Errungenschaft? Sarkozy will sie abschaffen.
Je näher das Ende der Sarkozy-Sommerschau rückt, desto schneller rennt der Minister. Immer gefolgt von Frau Cecilia, die ihn um einen halben Kopf überragt. Für die Fotografen einer Illustrierten joggt sie mit ihm über den Strand. Im Ministerium hat sie ein eigenes Büro. Journalisten erklärt sie: „Er hält es nicht aus, ohne mich zu sein.“ Die Sarkozys streben Ämter als Paar an.
Am letzten Tag des Monats August empfängt Sarkozy morgens den US-amerikanischen Schauspieler Tom Cruise. Der Staatspräsident kämpft für den Laizismus und gegen jugendgefährdende Sekten. Sein Finanzminister spricht mit dem bekennenden Scientologen über die franco-amerikanischen Beziehungen. Nachmittags besucht der Finanzminister die Sommeruniversität des Unternehmerverbandes Medef. 3.000 Unternehmer spenden ihm minutenlang Beifall.
„Generationenwechsel“ lautet der Titel der Podiumsdiskussion, die Medef für Sarkozy organisiert hat. Neben dem Finanzminister auf dem Podium sitzen gleichaltrige Männer, die einige der größten französischen Unternehmen leiten – darunter den Versicherungskonzern Axa und das Rüstungsunternehmen Lagardere. Der Finanzminister ist per du mit ihnen. Chirac ist für sie bereits Vergangenheit.
„Als Junger muss man sich selbst einen Weg bahnen“, sagt Sarkozy. Die gleichaltrigen Patrons sitzen gelassen neben ihm auf dem Podium. Sein Körper vibriert unablässig: „Man darf nicht warten, dass die Älteren es tun.“ Lagardere nickt freundlich. Über das Hauptthema in den Betrieben verliert Sarkozy kein Wort. Vor ein paar Wochen hat er die Drohung: „Entweder ihr arbeitet gratis mehr, oder wir gehen ins Ausland“ noch als eine „inakzeptable Erpressung“ bezeichnet. Aber da ging es um einen deutschen Konzern. Jetzt sitzen französische Unternehmer vor ihm. Ihren Beifall braucht er. Zwei Tage später hat er einen Termin im Élysée-Palast.
Die Methode Sarkozys ist die Bewegung. Er kündigt an. Und rennt weiter. Wenn sich zeigt, wie wenig seine Politik bewirkt, ist er längst am nächsten Schauplatz. Sarkozy hat das Durchgangslager Sangatte am Ärmelkanal geschlossen. Seither hausen die Flüchtlinge in Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg. Sarkozy hat das „aktive Anschaffen“ unter Gefängnisstrafe gestellt. Seitdem schaffen die Prostituierten außerhalb der Innenstädte an. Werden häufiger Opfer der Gewalt von Kunden und Zuhältern und können seltener den Einsatz von Präservativen durchsetzen. Sarkozy „zwingt“ die Supermärkte, ihre Preise um zwei Prozent zu senken. Drei Monate später, als die Regel in Kraft tritt, zeigt der Kassenbon, dass ein paar Produkte billiger geworden sind und viele andere teurer. Da ist Sarkozy bereits Kandidat für den UMP-Vorsitz.
An seinem Erfolg lässt sich nicht deuteln. Er handelt von Leben und Tod. Seit Innenminister Sarkozy den Rasern den Krieg erklärt hat, ist die Zahl der Unfalltoten drastisch gesunken. Auf unter 6.000 im vergangenen Jahr. Damit gerät Frankreich, wo zuvor mehr Menschen im Straßenverkehr starben als in jedem anderen EU-Land, in den Bereich der europäischen Normalität. Mit diesem Erfolg brüstet sich Sarkozy nicht. Die Verkehrssicherheit ist auch ein zentrales Thema von Chirac.
Als UMP-Chef wird Sarkozy im November sein Ministerium als Bühne verlieren. Er wird in die Machtkämpfe der parteiinternen Flügel geraten. Und in Loyalitätskonflikte gegenüber der rechten Regierung. Und er muss den Staatspräsidenten zugleich als Chef seiner Partei unterstützen und sich gegen ihn als bessere Alternative profilieren.
In drei Jahren, wenn die Franzosen ihren nächsten Staatschef wählen, werden sie zwei Amtsperioden Chirac hinter sich haben. Zwölf Jahre rechter Staatspräsidentschaft. Gut möglich, dass sie einen Wechsel wollen. Gut möglich auch, dass sie nicht nur ein anderes Gesicht im Élysée-Palast wollen, sondern auch eine ganz andere Politik. In dem Fall wäre Sarkozy ins Abseits gerannt.