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Archiv-Artikel

Rebellion ist gerechtfertigt

Kapitalismuskritik? Diese Freiheit nehm ich mir! Denn die Abscheu gegen den Kapitalismus ist dessen nobelstes Produkt. Zweifellos lebt es sich schön in der Marktwirtschaft. Am schönsten allerdings da, wo ihre Prinzipien außer Kraft gesetzt sind

Der Kapitalismus produziert das Unbehagen an sich selbst gleich mitDas Rebellische ist selbst eine Produktivkraft des Kapitalismus

von ROBERT MISIK

Ein Indiz für eine seltsame Renaissance linker Fragen ist die heftig gereizte Reaktion, die diese hervorruft. Unter den gepflegten Wutanfällen dieser Art hat das jüngste Sonderheft des Merkur („Kapitalismus oder Barbarei“) weite Beachtung erfahren. Die Aufnahme war durchaus paradox. Feierte Jan Feddersen in der taz die gesammelten Lobgesänge auf den Kapitalismus als „intellektuelle Avantgarde“, fragte Stephan Speicher in der Zeit irritiert, was bloß das Engagement befeuere für die eigentlich doch eher fade Botschaft: „So wie es gerade ist, ist es gut.“

Wobei schon die analytische Basis, zu der die einzelnen Merkur-Essays gewissermaßen den Überbau bilden, fragwürdig ist: „Niemand hat den Kapitalismus lieb.“ Besteht denn die Seltsamkeit der neuen linken Welle, vom No-Global-Demonstrationswesen über den weltweiten Hype um Kritik-Celebrities wie Michael Moore oder Naomi Klein bis zum bemerkenswerten Erfolg von Links-Combos wie den Beginnern oder Wir sind Helden nicht gerade darin, dass sie auf fester kapitalistischer Grundlage ruhen? Man könnte gewissermaßen von Antikapitalisten ohne Antikapitalismus sprechen, bringen sie doch ein Unbehagen über den Triumph der Marktordnung zum Ausdruck, ohne dass sie eine Alternative zu derselben zu formulieren versuchten. In dieses paradoxe Bild fügt sich, dass selbst der brave, sozialdemokratische Keynesianismus sich heute als APO kostümiert (in Gestalt von Attac nämlich), die den Markt mehr ordnen möchte, als dass sie ihm prinzipiell kritisch gegenüberstünde; für diese APO ist die Verbesserung des Kapitalismus keine unintendierte Nebenfolge (wie für die 68er-Variante) – sie ist ihr erklärter Zweck.

So paradox wie die rebellischen Gesten ist auch die prokapitalistische Reaktion. Auch wenn von dieser Seite versucht wird, keinen Millimeter Distanz zwischen sich und dem, was ist, zuzulassen, so kommt die forsche Affirmation doch mit dem Habitus des Kulturkonservativen daher, in der solitären Dissidentenpose, die sich erhaben gibt über die Flausen der Dummchen mit ihren Gewerkschaftermützen und Ché-T-Shirts. Um es solchen verbiesterten Linken zu geben, muss dann meist Karl Marx mit seiner Hymne auf den Kapitalismus an die Zitatenfront: „Die Bourgeoisie […] hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. […] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht […].“

Was den Marx’schen Modus aber auszeichnete, war, dass er zu verstehen erlaubte, wie die Verhältnisse den Einspruch gegen sich mitproduzieren, wie sie gleichsam immer gegen sich konspirieren. Das Thema von 150 Jahren linker politischer Ökonomie war, so gesehen, die tätige Selbstkritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das – nach der lange gängigen orthodoxen Auffassung – die Grenzen, die sein Scheitern begründen würden, selbst immerfort aufrichtet; Thema der linken Gesellschaftstheorie im weiteren Sinne war, dass dieser Kapitalismus die Freiheits- und Glücksversprechen, die er weckt, nicht zu stillen vermag, ja sogar pervertiert und so seine eigenen Feinde aufzieht.

Er produziert sich Subjekte. Er produziert Hoffnungen (die nie ganz realisiert werden). Und er produziert die Rebellion gleich mit – eine Rebellion gegen die Umformatierungen, eine Rebellion, die seine Freiheitsversprechen beim Wort nimmt. Was da beklagt wird, kann man nennen, wie man will, mit dem alten Schlüsselbegriff Entfremdung liegt man wohl nicht ganz falsch. Mag dieser im strengen Marx’schen Diskurs auch untrennbar verbunden sein mit der Kritik an der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, so war er vor, nach (und selbstverständlich auch bei) Marx doch immer in einem weiteren Sinne in Gebrauch: im Sinne einer Selbstentfremdung des Menschen von seinem Wesen, worin die Idee einer gewissen authentischen Eigentlichkeit ebenso anklang wie die eher spontane Vorstellung, was ein gelungenes menschliches Leben ausmacht – erfüllte Beziehungen, eine sinnvolle Tätigkeit, Autonomie über das eigene Tun.

Nun ist die Einrede gegen den Entfremdungsbegriff so alt wie dieser selbst und von Marx gleichsam vorbereitet, der ja bald die Vorstellung eines archaischen menschlichen Wesens aufgab zugunsten der berühmten Wendung, „das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Auf Seiten der Gegner der Linken wurde diese These ergänzt durch den Hinweis, so wie die marktwirtschaftliche Entfesselung der Ökonomie ist auch die Entzweiung des Menschen – der Umstand, dass sein Wesen gerade in seiner Dezentrierung besteht – ein Freiheitsgewinn. Dass in der modernen Kultur die Menschen nicht in einem dichten direkten Abhängigkeitsverhältnis stehen, sondern auf vielfach vermittelte und zunehmend abstrakte Weise miteinander verbunden sind, ist aus solcher Perspektive nicht der Preis, sondern das Glück ausdifferenzierter Gesellschaften. Darin liege noch das Befreiende der modernen Geldwirtschaft. Auch dass sich die Menschen vor der Aufgabe sehen, in den verschiedenen Milieus, in denen sie agieren, unterschiedliche Rollen zu spielen, markiere die Stärke der abendländischen Zivilisation.

An einer solchen Deutung ist viel Wahres, sie verfehlt aber gerade deshalb ihr eigenes Thema, weil sie dupliziert, was sie einer simplizistischen linken Tradition vorhält: Sie ist nicht offen für Ambivalenzen. Ist das Leben im Kapitalismus aus Sicht des plumpen Entfremdungstheorems nur schlecht, so kann es für die seichte Affirmation nur gut sein. Letztere scheitert damit auch an der Empirie, vermag sie ja nicht zu erklären, warum so viele Menschen, denen es eigentlich gut geht, so offenkundig unzufrieden sind, warum gerade jene missmutig vom „falschen Leben“ schwadronieren, die eigentlich ganz glücklich aussehen. So begnügt sich eine solche Haltung meist mit Spott über den altväterlichen linken „Entfremdungsmythos“.

Eine modernisierte Kritik, die weder in die Falle der Affirmation noch jene des plumpen „Systemkritik“ fallen will, müsste wohl gerade von einem Verständnis für Ambivalenzen ausgehen. Die Wünsche und Träume und Lebensentwürfe, die sich immerfort an der kapitalistischen Realität brechen, sind ebenso gesellschaftlich-historischer Natur wie diese Realität selbst. Das Unbehagen und die Revolte sind, wenn man so will, das nobelste Produkt des Kapitalismus. Das Verhältnis zwischen ökonomischer Struktur und der Art, wie die Menschen ihre Leben einrichten (und einzurichten wünschen, was bekanntlich leider nicht dasselbe ist), ist jedenfalls vielfach vermittelt, quer- und gegenläufig. Die Hoffnungen, die die Menschen hegen, haben den Kapitalismus womöglich erst zu jener „Ordnung der Freiheit“ gemacht, als die er sich für manche zweifelsohne präsentiert. So wie die Ordnung wachsender personaler Freiheit bei gleichzeitiger sachlicher Abhängigkeit im Gegenzug wiederum dazu führt, dass wirkliche Autonomie umso heißer ersehnt wird.

Wobei der Hinweis auch nicht vergessen werden soll, dass sich selbst bei weitgehender Freiheit über den Umweg solcher Abhängigkeit Machtbeziehungen in die zwischenmenschlichen Beziehungen einschleichen, die nicht die geringste Ursache für das Unbehagen sind.

Die meisten Menschen sind doch Gefangene von Rollen, deren Autoren sie nicht sind, und das gilt für den postfordistischen Kapitalismus eher noch mehr als für seine stärker reglementierten Vorläufer. Nicht selten zerplatzen die Blütenträume von Freiheit in dem Augenblick, in dem man den Brief von der Bank aus dem Postfach nimmt, in dem diese den Dispo fällig stellt. Und dass sich der Herdentrieb der Konsumgesellschaft gut verträgt mit den Unabhängigkeitsideen des westlichen Individualismus zählt sowieso zu den ironischen Wahrheiten unserer Zeit. Andererseits, und nicht zuletzt, erweist sich die „Freiheit“, die man sich im Kapitalismus zu nehmen vermag, ja gerade in der Ausdehnung jener Inseln und Nischen, die dem Wert- und Konkurrenzprinzip entzogen sind. So gesehen sind die stärksten Argumente für den Kapitalismus jene Räume, in denen er seine eigene Sistierung zulässt.

Es werden nicht mehr Sozialismus oder Kommunismus gefordert, sondern „gutes Leben“. Und weil dieses Begehren von der Realität selbst produziert ist, wird die Art und Weise, wie es sich äußert, häufig von den Verhältnissen, unter denen es zutage tritt, eingefärbt sein. Noch die Kritik am Konsumismus wird zur Ware. „Das Protestlied gegen den Weltsound von MTV endet als Nummer eins der Charts“, formuliert Norbert Bolz diesen Zusammenhang. Und: „Wenn die Kritik erfolgreich, also öffentlichkeitswirksam ist, verwandelt sich der Kritiker selbst in einen Markenartikel.“

Das Rebellische ist selbst eine Produktivkraft des Kapitalismus. Common Currency ist die Gewissheit, dass dieser längst alles zu integrieren vermag. Was ist daran aber so schlimm? Ist er tatsächlich dazu fähig, was so ausgemacht nicht ist, dann sind es aber doch gerade diese rebellischen Impulse, die ihn verändern und die somit zur Ursache für jene Freiheitsgewinne werden, die der postlinke Kulturkonservativismus laut feiert, während er sich über die Rebellenposen so lustig macht. Was aber, wenn er gar nicht fähig ist, jeden Sonderwunsch zu integrieren und die subversive Spitze zu nehmen? Na, umso besser für die Sache der Subversion. Herausfinden wird man das wohl nur durch trial and error.

Womöglich tut man in Zweifel gut daran, es dabei mit der jeweils radikaleren Position zu probieren, am besten mit einem schönen Wort Walter Benjamins im Ohr: „Versuchsweise extrem“; und einer Erinnerung an Mao Tse-tung: „Rebellion ist gerechtfertigt.“