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Archiv-Artikel

Nachmittag des Wohlfahrtsstaats

Der Staat als Denkkategorie des Sozialen etabliert sich neu. Während im Globalisierungsfieber und New-Economy-Rausch der „Roaring Nineties“ noch uneingeschränkt der Primat des Ökonomischen die Debatte um den gesellschaftlichen Wandel dominierte, lässt die aktuelle Kontroverse um die prekäre Gegenwart und unsichere Zukunft des Wohlfahrtsstaats den eminent politischen Charakter der gesellschaftlichen Ordnung erneut hervortreten. So erkennt sich am Nachmittag des Wohlfahrtsstaats die Gesellschaft in ihrer „Staatsbedürftigkeit“ wieder.

Hierfür gibt es gute empirische Gründe. Denn soziale und berufliche Gefährdungen verharren nicht mehr länger in den beklagenswerten Randlagen der Armut und Ausgrenzung, sondern sie entwickeln sich mehr und mehr zu Alltagserfahrungen der gesellschaftlichen Mitte. Vieles spricht dafür, dass die Neuordnung staatlicher Interventionen und Bestandsgarantien in der Arbeitswelt, der Rentensicherung, der Gesundheitsvorsorge oder der Eigenheimförderung nicht nur soziale Randlagen verfestigt, sondern auch den mittleren Lagen der Gesellschaft zu schaffen macht. Die „arbeitnehmerische Mitte“, die ihren sozialen Aufstieg und ihre Statusstabilität in nicht geringem Maße dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats zu verdanken hat, registriert in diesen Tagen des Reformeifers ihren Bedarf an staatlich garantierter Statussicherung und sorgender Verwaltung.

Der Wohlfahrtsstaat, der über Jahrzehnte hinweg in den mittleren Soziallagen der öffentlichen Dienste, der technisch-sozialen Berufe, der industriellen Facharbeiter und Angestellten als soziale Aufstiegsmaschine und Statussicherungsinstanz wirkte, verändert seine Gestalt. Der Dreiklang von Statuserhalt, Wohlstandssicherung und Deklassierungsvermeidung gerät zum Basso continuo in der Debatte um die Neujustierung. Zur Frage nach der „Staatsbedürftigkeit“ der Gesellschaft tritt die Frage nach den Strukturen der Gesellschaft, nach Klassen und Schichten hinzu. Denn die wohlfahrtsstaatliche Politik formt Lebenschancen und strukturiert soziale Ungleichheit.

Das Modell des „sorgenden Staates“ und die damit verknüpfte Idee von Wohlfahrtsstaatlichkeit prägte die westeuropäische und die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft in konstitutiver Weise. Nach dem Fall der Mauer erlebte dieses Modell im Zuge der politischen Vereinigung Deutschlands eine letzte kurze Blüte, die allerdings auch dessen finale finanzielle Erschöpfung zur Folge hatte. Was charakterisiert dieses staatliche Modell sozialer Ordnung? Die staatliche (Vor-) Sorge zielte hier auf mehrere Felder des Sozialen: auf die Minimierung sozialer Risiken und die Dämpfung sozialer Ungleichheiten durch staatliche Garantien der Statussicherung in den erwerbsbiografischen, gesundheitlichen und altersbezogenen Wechselfällen des Lebens; auf die Absicherung beruflicher Karrieren und die Öffnung sozialer Aufstiegsperspektiven durch schulische, betriebliche und universitäre Bildung; auf die Bereitstellung qualifizierter und disziplinierter Arbeitskräfte; auf die klare Trennung von beruflichen und privaten Arbeitswelten. Der Leitbegriff und der Orientierungspunkt des „sorgenden Staats“ war der „Arbeitnehmer“, der die Sozialpartnerschaft pflegte und Aufstiegswillen demonstrierte. Kurzum, im Modell des „sorgenden Staats“ verbindet sich ein universaler gesellschaftlicher Integrations- und Interventionsanspruch mit selektiven sozialstrukturellen Konsequenzen.

Insbesondere die bildungs- und aufstiegsorientierten Arbeiter- und Angestelltenmilieus profitierten in zweifacher Hinsicht vom Ausbau des „sorgenden Staats“. Dieser garantierte ein hohes Maß sozialer Sicherung und eröffnete neue berufliche Tätigkeitsfelder und Karrieren. Die Expansion des Bildungs- und Sozialwesens, des Gesundheitssystems, der Pflegeeinrichtungen und der Sozialversicherungen fungierte als berufliche und soziale Aufstiegsleiter. Der „sorgende Staat“ schuf als Ausweis seiner formativen sozialen Kraft eine neue Mittelschicht.

Die neue Architektur wohlfahrtsstaatlichen Handelns orientiert sich hingegen am Modell des „Gewährleistungsstaats“, der keine soziale Statussicherung, sondern nur noch eine staatlich-institutionelle Grundausstattung bei vermindertem Personaleinsatz „anbietet“. Den Bürgern werden nun Chancen ermöglicht, die zu nutzen allerdings ihre Aufgabe ist. Die Konzeption des „Gewährleistungsstaats“ beschränkt sich freilich keineswegs allein auf die Felder der Erwerbsarbeit und der sozialen Sicherung. Auch im Bereich öffentlicher Güter, des Verkehrs- oder Bildungswesens tritt der Staat im Zuge von Privatisierungen Aufgaben an Dritte (private Unternehmen oder Stiftungen) ab, ohne als „gewährleistender Staat“ jedoch auf hoheitliche Funktionen zu verzichten.

Es geht stets um neue Arrangements des Staatlichen, um die Einrichtung von Netzwerken und den Aufbau kooperativer Verhandlungssysteme, um die Selbstregulierung der öffentlichen Sphäre. Dieser Modellwechsel kann nur schwer als Einbahnstraße zu immer weniger Staat, als Überforderung des Staats oder als prinzipieller Verzicht auf staatliche Intervention beschrieben werden. Gerade die Eingriffe des Staats in die Sphäre der Erwerbsarbeit, insbesondere in den Randlagen von Arbeitsmarkt und Beschäftigungssystem, waren noch nie so mannigfaltig wie heute. Wer hierfür Belege sucht, dem genügt ein Blick auf die aktuelle Entwicklung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Arbeitslose werden im Zuge gesetzlicher Neuregelungen aufgefordert, ihre Vermögensbestände aufzubrauchen, bevor sie staatliche Unterstützungsleistungen erhalten, qualifizierte Facharbeiter werden von den Arbeitsagenturen in die Leiharbeit gedrängt, Familien müssen vom Jobmix im geförderten Niedriglohnsektor existieren, der berufliche Bestandsschutz bei der Arbeitsuche ist aufgehoben, und nur noch kurzzeitig Arbeitslosen wird der Weg in weiterbildende und arbeitsschaffende Maßnahmen geebnet. Alles keine guten Beispiele für staatlichen Interventionsverzicht.

Diese Aufzählung gibt eher einen Hinweis darauf, dass der „gewährleistende“ Staat mit einer Ausweitung von Kontrollpraktiken und Zwangsmaßnahmen in den sozialen Randlagen einhergeht. Der Übergang vom „sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Staat entfaltet mithin sehr ungleiche Wirkungen. Der Entzug der Statussicherung hat in der Mitte der Gesellschaft andere Konsequenzen als in den Randlagen – dort geht es um die Prekarität des Wohlstands, hier um die Verfestigung der Armut, dort um den Entzug der Statusstabilität, hier um die verschärfte Kontrolle sozialer und materieller Abhängigkeiten. Die Neukonzeption staatlicher Politik hat zentralen Einfluss auf die Gliederung der Gesellschaft, sie formt und differenziert Lebenschancen. Neue Ungleichheiten treten hervor. Die sozialstrukturelle Frage kommt ins Spiel.

Der Kern veränderter (Wohlfahrts-)Staatlichkeit und eines markant neuen Zuschnitts des Politischen ist die schrittweise Abkehr vom Statussicherungsprinzip – paradigmatisch im Arbeits- und Sozialrecht. Dieser Modellwechsel staatlicher Daseinsfürsorge ist für die Entwicklung des sozialen Strukturgefüges zentral. Der in der soziologischen Diskussion ebenso kontroverse wie viel diskutierte Begriff der Exklusion weist zwar auf neue soziale Spaltungen hin, bleibt in diesem Kontext aber unscharf. Die Exklusionsdebatte öffnet nicht den Blick für die Grauzonen und die Übergangsphasen des sozialen Wandels: für die allmähliche Erosion und Gefährdung sozialer Stabilität, für die Prekarität des Wohlstands, für die Verwundbarkeit beruflicher Positionen und gesellschaftlicher Beziehungen und für die Folgen des politischen Entzugs sozialer Sicherungen und Bestandsgarantien. Wenn der wirtschaftliche Strukturwandel die Kernbereiche der Arbeitswelt erreicht, wenn die Neujustierung der wohlfahrtsstaatlichen Politik mehr und mehr auf die Mitte der Gesellschaft zielt und infolgedessen stabile Status- und Wohlstandspositionen fragil werden, dann ist es unabdingbar, den soziologischen Blick aus dichotomen Schemata zu befreien und ihn zu erweitern – von der Exklusion zur Vulnerabilität, von der Armut zum prekären Wohlstand. Worauf zielen die Begriffe Vulnerabilität und prekärer Wohlstand?

Mit dem Begriff der Vulnerabilität, der von dem französischen Sozialhistoriker Robert Castel in die Diskussion um den Wandel der Arbeitswelt und der sozialen Beziehungen eingeführt wurde, kommt die gefühlte soziale Ungleichheit und Unsicherheit ins Spiel. Akteure in unsicheren, fragilen sozialen Lagen und Positionen geraten in den Blick. Zudem steckt Vulnerabilität eine Zone sozialer Wahrscheinlichkeiten ab, in der es um Abstiegs- und Deklassierungsbedrohungen, um Aufstiegs- und Stabilitätshoffnungen, aber eben nicht um Exklusionsgewissheiten geht.

Der Begriff des prekären Wohlstands etablierte sich in der Armutsforschung. Er macht auf eine expandierende Einkommenszone aufmerksam, die zwischen Armut und gesicherten Wohlstandspositionen angesiedelt ist. Das Auskommen mit dem Einkommen fällt in dieser Zone schwer. Prekärer Wohlstand markiert einen gefährdeten Lebensstandard und er signalisiert: Die Mitte der Gesellschaft ist in ihrer Stabilität bedroht, soziale Unsicherheit und materielle Restriktionen finden sich nicht erst in den Randlagen der Gesellschaft. Beide Begriffe nehmen eine fragile Zone in den Blick, in der es zwar noch nicht um Armut und Arbeitslosigkeit, um Marginalisierung und soziale Ausgrenzung geht, in der der erreichte Lebensstandard und die errungenen beruflichen und sozialen Positionen dennoch nicht sicher sind.

Die Frage von Auf- und Abstieg, von Stabilisierung und Destabilisierung, von Sicherheit und Unsicherheit steht in dieser Zone zur Diskussion. Die Lebens- und Haushaltsführung gleicht hier einem fragilen Kartenhaus, das nur geringer Erschütterung bedarf, um in sich zusammenzustürzen. Die materiellen und sozialen Ressourcen sind knapp und deren Verwendung ist genau kalkuliert, sodass der (auch kurzfristige) Verlust des Arbeitsplatzes, eine länger währende Erkrankung, unerwartete finanzielle Anforderungen oder familiäre Probleme gravierende soziale Folgen nach sich ziehen können. Als Prozess- und Wahrscheinlichkeitsbegriffe verändern Vulnerabilität und prekärer Wohlstand die Sichtweise auf die Grundlagen der sozialen Ungleichheitsordnung, sie erweitern das sozialanalytische Vokabular und sie erlauben einen problemgerechten Blick auf die sich herausbildenden Ungleichheitsstrukturen in Zeiten neuer politischer Ordnungsmuster des Wohlfahrtsstaats.

Prekarität des Wohlstands setzt freilich Wohlstand voraus, und nur Menschen, die Statussicherheit kennen, fürchten deren Vulnerabilität. Es geht um das Arbeiten und das Leben in der Mitte der Gesellschaft, um Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste, um die Bewahrung von Wohlstand und Sicherheit. Die Bezugspunkte dieser sozialen Mentalitäten und Orientierungen sind – neben dem „wohlfahrtsstaatlichen Arrangement“ als Statusgarant – die Familie und die mit ihr verknüpften Strategien der Statusreproduktion; die Bildung und das Versprechen auf Statusverbesserung; der Konsum und die Haushaltsführung als Eckpunkte symbolischer Positionsgewinne und die Erwerbstätigkeit als Grundlage beruflicher und sozialer Karrieren, als sozialer Platzanweiser und Türöffner zum wohlfahrtsstaatlichen Leistungssystem.

An den Orten der Statussuche und der Statusängste sind soziale Vulnerabilität und prekärer Wohlstand lokalisiert. Die Metamorphosen der Erwerbsarbeit spielen für den Gestaltwandel der gesellschaftlichen Mitte die zentrale Rolle. Die organisatorische Einheit der Betriebe zerfällt. Die Kalkulierbarkeit betrieblicher und beruflicher Karrieren schwindet. Die vertragliche Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse wird spezieller, variabler und personalisierter. Die sozialen Ungleichheiten innerhalb der Betriebe wachsen. Die Zone der Niedrigeinkommen expandiert. Ebenso Mehrfachbeschäftigung, Scheinselbstständigkeit oder Leiharbeit. Die soziale Leitfigur des „sorgenden“ Wohlfahrtsstaats zerfällt: der unbefristet und vollzeitig erwerbstätige, tariflich entlohnte und sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer.

Das viel besungene Modell Deutschland, das die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats eng mit der Gestaltung der Erwerbsarbeit verknüpfte und das die Erzählung eines kollektiven sozialen Aufstiegs des sozialversicherten Arbeitnehmers war, ist abgeschlossen. Nun treten die Regulation materieller und symbolischer Verluste, sozialversicherungstechnischer Unregelmäßigkeiten sowie sozialer Ab- und Seitwärtsbewegungen in den Vordergrund. Die Brüchigkeit sozialer Positionen, neuartige Gefährdungen des arbeitsrechtlichen Schutzes, das Scheitern sicher geglaubter Karrieren und die Unmöglichkeit der Fortsetzung bestimmter sozialer Arrangements werden zum Thema. Es geht um die Minusvisionen der Mittelklasse, um Alleinverdienerhaushalte, die ihr familiäres Budget in prekärer Balance zu halten versuchen, um Mehrfachbeschäftigte, die mittels „Jobmix“ ihr Auskommen bestreiten, um Beschäftigte in Kleinbetrieben, die durch den Verzicht auf Lohn und Arbeitnehmerrechte den eigenen Arbeitsplatz zu stabilisieren versuchen, um berufliche Existenzen prekärer Selbstständigkeit, die von Auftrag zu Auftrag bangen, oder um Angestellte im öffentlichen Dienst, deren Hoffnungen im „new public management“ ihr Ende fanden.

Der hohe Mittag des sorgenden und auf unmittelbare gesellschaftliche Intervention orientierten Wohlfahrtsstaats ist überschritten, aber der Abend noch nicht erreicht. Wir bewegen uns in einer Zwischenzeit ohne Euphorie und Tragödie, ohne unverhofften Neubeginn und endgültigen Verlust. Staat, Klasse und Gemeinwohl erleben als Strukturbegriffe und Denkkategorien des Sozialen ihre Renaissance. Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft tritt in den Nachmittagsstunden des Wohlfahrtsstaats aus den Kulissen hervor – zu ihrem letzten Auftritt oder in Erwartung ihrer politischen und sozialtheoretischen Neugestaltung?