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Archiv-Artikel

Wo Rinder in die Binsen gehen

1.282 Pflanzen- und Tierarten, davon 234 von Roten Listen, beleben das Areal

von Gernot Knödler

Die extensive Tierhaltung ist eine schöne Sache. Aber haben Sie schon mal versucht, ein Rind einzufangen? Noch dazu in einer von Büschen verstellten, von Hügelrücken und Gräben durchzogenen und teilweise versumpften Landschaft? Ein Rind, das sich an das schöne Leben in freier Wildbahn ohne Feinde gewöhnt hat? Wer es versucht, bekommt eine Vorstellung von den Überraschungen, die ein scheinbar harmloses Projekt wie die „Halboffene Weidelandschaft Höltigbaum“ bereithält.

„Es reicht nicht, Tiere draufzustellen“, zieht Uwe Riecken vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) nach fünf Jahren Bilanz. Alles in allem sind die Naturschützer der beteiligten Landesministerien von Schleswig-Holstein und Hamburg, der Naturschutz-Stiftungen und Umweltverbände jedoch höchst zufrieden mit dem Projekt. Der Versuch hat international Beachtung und Nachahmer gefunden, viele Forschungserkenntnisse wurden bereits in die aktuelle Dikussion um die EU-Landwirtschaftsreform eingebracht.

Der Höltigbaum ist ein von den Eiszeiten geprägtes Areal beiderseits der Landesgrenze im Osten der Hansestadt. 1937 hatte die Wehrmacht auf dem 546 Hektar großen Gebiet einen Truppenübungsplatz eingerichtet, bis 1992 nutzte ihn die Bundeswehr. Seit bald 70 Jahren ist hier nicht gedüngt, geschweige denn Kunstdünger ausgebracht worden – allein das schon lässt Biologen das Herz hüpfen.

Denn auf dem mageren Boden können Pflanzen und mit ihnen Tiere gedeihen, die auf den fetten Weiden oder Äckern, die der Landwirt so gerne sieht, keine Chance haben. Dazu kam die Zerstörung der Vegetation, denn wo Panzer ein paar Mal lang gefahren sind, wächst buchstäblich kein Gras mehr. Dafür bot die entblößte Erde Grabwespen und Wildbienen die Möglichkeit zur Eiablage, sogar Eisvögel nisten in den Wänden der tiefen Furchen.

Als die Bundeswehr sich vor zwölf Jahren aus dem Gebiet zurückzog, schien es mit der Herrlichkeit vorbei zu sein. Die fein gegliederte Landschaft war für den Wohnungsbau, als Industriegebiet und sogar als Mülldeponie im Gespräch. 1993 ließ das Bundesumweltministerium ein Gutachten zu den „Möglichkeiten zur Berücksichtigung der Naturschutzbelange auf dem Höltigbaum“ erstellen. Ungerührt von den jahrelangen Debatten wucherte der Höltigbaum langsam zu.

1997 wies Schleswig-Holstein seinen Teil als Naturschutzgebiet aus, 1998 zog die neue rot-grüne Koalition im Hamburger Rathaus nach. Rinder und Schafe wurden auf das große, umzäunte Areal getrieben und im Wesentlichen sich selbst überlassen. Die würden, so die Theorie, das Gelände wieder frei fressen, trampelnd die Vegetationsdecke aufreißen und die Bäume am Hochkommen hindern. Heute, fünf Jahre später, steht fest: Es hat im Wesentlichen geklappt.

Ein Streifzug durch die Botanik macht das deutlich. Auf wenigen Metern wechseln sich kurz gefressene Grasflächen mit dichten Buschgruppen ab. Das Gras ist auf einem Quadratmeter ganz stark beweidet, dann wieder ragen Büschel auf, die den Tieren offenbar weniger schmecken. Ab und zu gibt es Disteln und Binsen. Die angeknabberten Büsche, meist Weißdorn, haben kurze Seitentriebe und viele Stacheln. Erst wenn mehrere von ihnen zusammenstehen, hat das Grünzeug in der Mitte die Chance, in die Höhe zu wachsen. Auch eine kleine Eiche, die lange Zeit von Rindern und Schafen kurz gehalten wurde, geht irgendwann so in die Breite, dass sie sich in der Mitte nach oben ausbreiten und zu einem großen Baum entwickeln kann. Vermutlich braucht sie dafür aber Jahrzehnte.

Das gehört zu den Mustern, die der Biologe Ulrich Mierwald vom Kieler Institut für Landschaftsökologie und Wissenschaftler der Uni Lüneburg bei der Begleitung des Vorhabens festgestellt haben. Demnach sind die Bäume, die zu Beginn der Beweidung bereits höher als zwei Meter waren, ordentlich gewachsen. Zweige und Blattwerk jedoch sind bis zu der Höhe, die die Rinder gerade noch erreichen, waagerecht abgefressen. Einzeln stehende Bäume seien von den Viechern benutzt worden, um der Wellness zu frönen: Sie schubberten sie kahl.

Insgesamt, so Mierwald, sei es gelungen, die Verbuschung zurückzudrängen. Trotz der Beweidung seien aber Waldparzellen entstanden. Wichtig sei es gewesen, den Tieren durch den weitgehenden Verzicht auf Zufüttern einen Anreiz zu bieten, auch weniger attraktives Grünzeug zu fressen. „Die Winterbeweidung ist der eigentlich entscheidende Faktor“, sagt der Biologe. Täglich erkunde die Herde das gesamte Gebiet auf Futtersuche und aus Neugier. Dauert der Winter lang genug, gehen die Rinder in die Binsen, die sie normalerweise nicht fressen.

Für Landwirte ist das eine weniger erfreuliche Vorstellung. Bei schlechtem Futter kommen die Tiere nicht zu Gewicht. Weil die Kalorien fehlen, zehrt der Nachwuchs inner- und außerhalb des Leibes die Muttertiere aus. Um dem entgegenzuarbeiten, muss, so die Erfahrung auf dem Höltigbaum, rechtzeitig zugefüttert oder es müssen Teile der Weide in Reserve gehalten werden. In Zukunft sollen die Tiere daher von bestimmten Geländeteilen ausgesperrt werden, damit sich dort die Vegetation erholen kann – ein Verfahren, das der Naturschutzbund (Nabu) in dem von ihm bewirtschafteten Teil des Schutzgebietes anwendet.

Sogar Eisvögel nisten in den Wänden der tiefen Panzerfurchen

Es stellte sich ebenfalls heraus, dass sich nur besonders robuste Rassen wie Galloways für diese Art der Tierhaltung eignen und selbst dann noch mit Verlusten gerechnet werden muss. Eine Kuh sei ins Eis eines Tümpels eingebrochen und habe sich nicht befreien können. Andere verendeten ohne erkennbaren Grund und wieder andere verwilderten, so dass es schwierig war, sie einzufangen.

Ökonomisch ist die Sache für den Landwirt, der an dem Versuch teilnahm, denn auch nicht optimal ausgegangen. Mitarbeiter Mierwalds errechneten trotz der Projektzuschüsse einen Stundenlohn von knapp 20 Euro. Mit der ab 2005 geltenden neuen EU-Förderung, die das Vorhalten von Flächen prämiert, wäre er allerdings auf mehr als 50 Euro Stundenlohn gekommen.

Auf jeden Fall gewonnen hat Mierwald zufolge die Natur: 1.282 Pflanzen- und Tierarten, davon 234 auf den Roten Listen der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein, haben die Biologen gezählt. Darunter sind Amphibien wie der Kammolch, eine so genannte prioritäre Art nach der EU-Richtlinie Flora-Fauna-Habitat (FFH). Zwei der fünf Amphibienarten, 16 der 31 Libellenarten und 10 von 19 Heuschreckenarten stehen ebenfalls auf der Roten Liste. Diese Vielfalt entstand durch den großen Abwechslungsreichtum im Gebiet.

Die Heuschrecken zum Beispiel profitieren von den unzähligen Maulwurfs- und Ameisenhügeln, die in dem halboffenen Gelände aufgeworfen wurden. Sie legen dort ihre Eier ab. Der Neuntöter mit seiner schwarzen Maske spießt seine Beute vor dem Fressen auf den Weißdorn. Und in tief ausgefahrenen Panzerspuren, die Regen und Grundwasser zu langen, flachen Tümpeln machten, tummeln sich Frösche und Molche in allen Entwicklungsstadien vom Laichballen bis zum landgängigen Amphibium.

In wenigen Jahren wandelte sich so das Militärgelände Höltigbaum zu einem Schutzebiet von europäischem Rang, weil der Mensch sich raushielt – im Wesentlichen.

Führungen und mehr gibt es beim Höltigbaum-Tag des Nabu am Sonntag, dem 3. Oktober, 11–17 Uhr, am Eingang Eichberg in HH-Rahlstedt. Weitere Infos unter www.nabu-hamburg.de oder am Infotelefon 040/69 70 89 15