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Archiv-Artikel

Die Hoffnung von Bremen lebt

Niedersachsen will das Blindengeld streichen und provoziert damit die größte Blindendemonstration der BRD. Eine solche hat schon vor Jahren in Bremen die Streichung des Blindengeldes verhindert

aus Hannover Anna Postels

Gelbe Mützen, wohin man blickt. Genauer: gelbe Mützen mit drei schwarzen Punkten. 10.000 sollen es sein, Mützen und Menschen. Samstagmittag in Hannover. Im Demonstrationszug werden Transparente und Schilder hochgehalten, Sprechchöre schallen durch die Straßen, untermischt von Trillerpfeifen und Rasseln. Eigentlich könnte es eine ganz normale Demonstration sein, wie man sie schon oft gesehen hat. Mit dem einen Unterschied: die Teilnehmer der Demonstration sehen selbst nichts. „Hände weg vom Blindengeld!“ Auch der Bremer Blindenverein hat diesen Leitspruch auf sein Transparent geschrieben, das er nun vor sich her trägt. An den beiden Enden zwei Sehende, in der Mitte vier Blinde. Hinter dem Transparent die Nachhut des Bremer Blindenvereins, drei Busse voll.

Morgens sind sie in Bremen losgefahren, Blinde, Sehende und zwei Hunde, im Kofferraum die Transparente, die Schilder. „Wir wollen uns solidarisch zeigen“, sagen sie, „damals haben sich die anderen Bundesländer solidarisch gezeigt und uns Bremer unterstützt.“ Damals, das war 2001. Bremen wollte das Blindengeld, das in Bremen Landespflegegeld heißt, abschaffen. 4.000 Blinde aus der ganzen Republik reisten in die Hansestadt und protestierten. Das Landespflegegeld blieb. Diemal fahren die Bremer nach Hannover, genauso wie die Blinden aus Stralsund, Freiburg, München und Dresden – in der Hoffnung, das Wunder noch einmal geschehen zu lassen. Denn es geht nicht nur um selbstlose Solidarität. „Wenn das Blindengeld in einem Bundesland gestrichen wird, fallen die anderen Länder wie beim Domino um“, sagt Adolf Bauer, Vorsitzender des Sozialverbandes Deutschland.

Entstanden ist das Blindengeld als so genannter „Nachteilsausgleich“, es soll die Mehrkosten eines Blinden decken und ihm damit ein möglichst selbstständiges Leben ermöglichen. Eine Uhr, ein Buch, ein CD-Player sind jeweils für ein paar Euro zu haben. Für einen Blinden kosten sie leicht das Zehnfache. Die Uhr muss sprechen, das Buch in Blindenschrift geschrieben sein, der CD-Player ohne Display zu bedienen sein. „Bruder Jakob, Bruder Jakob.“ Im Bus singt man sich warm. Nur der Text ist anders: „Von der Leyen / wir sind blind / wo ist das Sozialamt / für uns hin?“

Der Bus aus Bremen erreicht Hannover um kurz nach zwölf, kurz vor zwölf hätte es sein sollen. Wenn das bloß kein schlechtes Omen ist. Es wird die größte Blindendemo in der Geschichte der Bundesrepublik.

Eine fremde Stadt, eine fremde Umgebung, Menschenmassen, da können auch Nicht-Blinde schnell die Orientierung verlieren. Jeweils ein oder zwei Blinde haben einen Sehenden als BegleiterIn mitgebracht. Manche lassen sich von ihrem Hund führen, der Berliner Blindenverein hält sich an einer langen Stange fest. Die Begleiter sehen für zwei: „Vorsicht, Bordstein“, rufen sie, und: „Achtung, wir bleiben jetzt stehen.“

Oder auch: „Jürgen, ist auf deinem Schild auch was zu sehen?“ – „Ja“, kommt die Antwort prompt. Mit einem Griff dreht die Sehende es um, die Bremer Stadtmusikanten kommen zum Vorschein.

Zwei Kilometer ist die Strecke von Schützenplatz bis zum Kundgebungsort lang. Dort, am Platz an der Marktkirche, stehen die Menschen bereits dicht gedrängt. Gelbe Mützen, wohin der Sehende blickt. Der Blinde „sieht“ über die Geräusche die Menschenmasse. Er hört das Stimmengewirr von 10.000 Menschen, das Klappern der Rasseln, die Trillerpfeifen und Tröten. „Blinde Menschen sagen nein, eine Streichung darf nicht sein!“, erschallt es aus tausendfacher Kehle. Die Redner sprechen von „Deutschland als Sozialstaat“ und davon, dass „niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.“ Applaus und wieder „Hände weg vom Blindengeld!“-Rufe. 90.000 Solidaritäts-Unterschriften gebe es, heißt es, die „Streichung des Blindengeldes“, betonen die Redner, wäre „ein fatales Signal, auch andere freiwillige Leistungen zu streichen.“

Irgendwann recken sich die TV-Kameras nach oben, die Sehenden erklären, was just passiert: „Ganz viele gelbe Luftballons mit dem Blindenzeichen steigen in den Himmel.“ Musik schallt über den Platz, weiße Blindenstöcke werden in der Luft geschwenkt, die gelben Mützen auch. „Es war eine eindrucksvolle Demonstration“, sagt einer. Die Hoffnung von Bremen lebt.