: „Du befindest dich im freien Fall“
Interview WALTRAUD SCHWAB
taz: Frau Kemper, jede neunte Frau erkrankt in Deutschland an Brustkrebs. Sie sind eine Neunte. Was heißt das?
Gudrun Kemper: Nach so einer Diagnose ist nichts mehr wie vorher. Ich war 39, hab’ das Leben geliebt. Plötzlich wird dir der Boden unter den Füßen weggezogen. Du befindest dich im freien Fall, begreifst, dass das Leben schrecklich sein kann.
Wie war der Augenblick, als Sie den Knoten tasteten?
Am Tag vor Weihnachten 1999 war das. Eisregen ging über Berlin nieder. Mich durchzuckte plötzlich ein Schmerz, als hätte jemand eine Stricknadel durch mich gestochen. Ich greife instinktiv an die Brust und meine Hand prallt gegen eine ganz harte Stelle. Das war’s. Ich wusste sofort: Das ist Krebs.
Der Krebs – eine Explosion?
Bei mir ja. Es waren dann die Feiertage. Wo kann man da hin? Damit fing die Katastrophe an. Von medizinischer Seite ist alles schief gegangen. Es stimmte wirklich nichts: keine Beratung, Ärzte, die keine Zeit hatten, mich dann nach der Biopsie aber mehrere Wochen warten ließen, weil Feiertag war, weil Jahrtausendwende war, weil kein Bett frei war. Vom Medizinischen ist das ganz schlecht. Das sind die Tage, wo Ihr Leben verspielt wird.
Kann man auf so eine Diagnose jemals vorbereitet sein?
Natürlich hatte ich mir die Frage gestellt, was ich machen würde, wenn mich das trifft. Nur eine Antwort hatte ich nicht.
Wo hätten Sie sich vorab dazu informieren können?
Eine gute Frage. Frauen in Deutschland steht viel zu wenig qualitätsgesicherte Beratung zu Brustkrebs zur Verfügung. Angefangen bei der Selbstuntersuchung und deren Relevanz bis hin zur Brustrekonstruktion. Selbstuntersuchung ist immer Späterkennung. Die Tumore sind dann zu groß, um die Brust zu erhalten. Mammographie will das Gegenteil: eine Früherkennung. Diese allein ist auch nicht die Lösung für Brustkrebs. Wenn der Tumor sehr aggressiv ist, hat er metastasiert, wenn er wenige Millimeter ist. Die Lösung ist irgendwo in der Tumorbiologie und Tumorforschung. Die aber liegt auf Eis.
Sie verfechten das Mammographie-Screening, die vorsorgende Röntgenuntersuchung der Brust für alle.
Ich verfechte, nein, ich fordere, dass man den Frauen gesicherte Informationen dazu bietet, was sie bei Brustkrebs machen können. Was das Mammographie-Screening angeht: Fakt ist, dass es den Frauen in Deutschland seit Jahrzehnten vorenthalten wird. Risiken sind immer dabei. Wenn sie nicht screenen, laufen sie Gefahr, eine Späterkennung zu erhalten. Wenn sie zum Screening gehen, gibt es das Risiko der Überbehandlung und das eher gering eingeschätzte Strahlenrisiko.
Sehen Sie nur Versäumnisse?
Derzeit schon. Die europäischen Leitlinien zu Brustkrebs sind in Deutschland nicht umgesetzt. Interdisziplinarität fehlt. Betroffenen Frauen wird ein Behandlungsweg vorgeschlagen, und den gehen sie dann in der Regel. Zweitmeinungen einzuholen wie in den USA, so was ist hier nicht etabliert. Über Alternativen wird nicht informiert. Erst wenn Frauen Alternativen kennen, können sie entscheiden.
Müssen sie das sonst nicht?
Kann man entscheiden, wenn man keine Wahl hat? In den USA ist das nicht so. Dort gibt es eine breite öffentliche Diskussion über Brustkrebs. Dort gibt es einen „quality-guide“ zu Brustkrebs. Dort sind die Sterberaten niedriger als bei uns.
Warum fehlt diese Öffentlichkeit hier?
Weil Brustkrebs nach wie vor ein Tabu ist.
Und warum fehlt die Qualität?
Dieser Mangel soll durch die Mammazentren ja nun behoben werden. Nur noch dort soll Brustkrebs behandelt werden. Wenn die Zentren den Kriterien der „Europäischen Gesellschaft für Brustkunde“ (Eusoma) entsprächen, mit ausreichend medizinischem Personal, zertifizierten Radiologen, multidisziplinären Behandlungsteams, dann wären wichtige Forderungen aus Patientinnensicht eingelöst. Ich bezweifle jedoch, dass die bisher geplanten Kapazitäten eine Brustmedizin ohne Wartezeiten für die Frauen ermöglichen. Nach der Krankenhausstatistik von 1999 waren das ja allein in Berlin 10.181 vollstationäre Behandlungsfälle im Jahr.
Wie haben Sie trotz der Diagnose und der für Sie inadäquaten Behandlung weitergelebt?
Ich hab’ nur noch meine Familie und einige gute Freundinnen an mich rangelassen. Leute, von denen ich dachte, auf die kann ich zählen. Die Krankheit ist ein Scheideweg.
Inwiefern?
Ich habe gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Positive seitens meines Chefs, der die ganze Zeit den Kontakt gehalten hat. Und dann, ja, auch negative. Mit meiner Mutter, mit meiner Schwester, mit denen hab’ ich seither keinen Kontakt mehr. Verstehen Sie, es gibt Menschen, die halten zu einem und andere verschwinden. Die Behandlung – mehrfache Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung –, das dauerte bei mir über ein Jahr. Danach ist man aber immer noch psychisch angeschlagen.
Nachdem Sie wieder einigermaßen hergestellt waren …
… bin ich aktiv geworden. Ich dachte: So kann das nicht sein. Es muss bessere Qualität, mehr Menschlichkeit, mehr Solidarität, mehr Unterstützung geben für die Frauen.
Brustkrebs ist ein Eingriff in die körperliche Integrität. Sexualität ist tangiert. Kann der Umgang damit auch als Schema eines gesellschaftlichen Sexismus gelesen werden?
Mit dem Wort Sexismus sollte nicht leichtfertig umgegangen werden. Wobei die Frage bleibt, warum man den Frauen Brustmedizin nicht adäquat zur Verfügung steht. Das sagt schon etwas über die Gesellschaft aus. Es geht dabei letztlich um Geld und um die Kräfteverhältnisse in der Medizin, Politik, Wirtschaft. Der finanzielle und personelle Druck auf die Mediziner und der Zwang zum Optimieren ist aufgrund des hohen Kostenfaktors enorm. Was aus dem Blick rausfällt, sind die Frauen, die es betrifft.
Sie haben das Buch „Jede Neunte“ herausgegeben, mit Berichten krebskranker Frauen. Ist es tatsächlich so dramatisch, wie da geschildert?
Ja, weil Brustkrebs eine schreckliche Erkrankung ist. Sowohl von der Konsequenz – 19.000 Frauen sterben jährlich in Deutschland daran – als auch von den Therapien, die sie sich antun, um dem Tod zu entrinnen. Es sind die härtesten Maßnahmen, die die Medizin zur Verfügung hat. Es ist keine Kleinigkeit, einen Menschen, der durch eine Krankheit tödlich bedroht ist, dem Tod zu entreißen. Dafür fährt man dieses Arsenal auf.
Man schneidet Fleisch weg, spritzt Gift, setzt den Körper radioaktiver Strahlung aus. Ist das Folter fürs Leben?
Wenn es den Frauen langfristig hilft, zu überleben, dann ist es Therapie fürs Leben. Davon berichten wir im Buch. Wir wollten die Situation so darstellen, wie sie ist. Dazu gehört auch das Positive, das aus den Berichten hervorgeht: Mut, Offenheit, Humor, Tabubruch, Lebenswille.
Wie gehen betroffene Frauen mit Fragen nach Schönheit, Hässlichkeit, Begehren um?
Das ist ganz individuell. Für alle steht an erster Stelle der Wunsch, weiterzuleben. Obwohl, so mein Eindruck, ein großer Teil der Frauen extrem verletzt ist.
Weiterleben also wie?
So gut es geht. Trotz Schmerzen, trotz Verlust, trotz Angst. Heute denke ich bei jedem Symptom: „Ich hab’ Metastasen.“ Und man hat dauernd Symptome, die Therapien greifen den Körper ja insgesamt an. Das vergiftet den Alltag schon. Eine Amerikanerin brachte das so auf den Punkt: „Am Ende glaubst du, sogar noch an Fingernagelkrebs zu leiden.“
Und die Frage des Todes?
Du kommst nicht drumherum, dich damit auseinander zu setzen, dass man sein Leben irgendwann verlassen muss. Das lässt sich am Tag vielleicht noch verdrängen. Aber nachts, da steigt die Todesangst auf. Vom massivsten Schock bis zu dem Augenblick, wo du denkst, „ach, vielleicht lebe ich doch noch ’ne Weile“, brauchte ich ein Jahr. Früher dachte ich, ich werde alt, und war sehr beschäftigt mit meinem Leben. Heute bin ich mit der Endlichkeit konfrontiert.