BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Das tapfere kleine Humankapital

Ein Unternehmen zu gründen dauert 45 Tage? Lächerlich! Eine wirkliche Zukunftsinvestition kostet 445 Tage

Eine Ohrfeige rettete vor 31 Jahren mein Leben. Den ganzen Sommer hatte ich mich auf die Schule gefreut. Aber am Tag der Einschulung ging gar nichts mehr. „Ich gehe da nicht hin!“ In höchster Not rutschte meiner Mutter dann die Hand aus. Ich heulte. Aber ich ging los. Dann folgten zwölfeinhalb Jahre Spaß und Erfolg in der Schule. Na ja, netto waren es vielleicht acht Jahre Spaß.

Natürlich hatte ich meinen Schulanfang im Hinterkopf, als wir an diesem Samstag Jonas einschulten. Heimlich hatte ich zu Hause meine Handkante am Sandsack geschärft. Würde ich meinem Sohn eine hauen können? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich könnte ich das nicht mal, wenn er gerade dabei wäre, den großen roten Knopf mit der Aufschrift „Finale Zerstörung der Welt“ zu drücken.

Jedenfalls blieben mir und meiner Handkante diese Fragen erspart. Jonas setzte freudig den nagelneuen und völlig leeren Schulranzen auf, griff seine Schultüte, die ihm bis zum Kinn reichte, und machte sich auf zur Einschulung. Tapfer saß er in der ersten Reihe. Tapfer stiefelte er auf die Bühne, als seine Name aufgerufen wurde. Tapfer winkte er von da ins Publikum. Tapfer schluckten Anna und ich den Kloß, den wir im Hals hatten. Der Tapferste an diesem Tag aber stand vor der Tür der Schule. Ein unscheinbarer mittelalter Herr, der es wagte, braune Papiertüten zu verteilen, auf denen rot „SPD“ gedruckt war. Zur Erinnerung: Das ist die Partei, die verkündet, Bildung sei „die wichtigste Investition in die Zukunft“. Die Partei, die an den Schulen und Kitas spart und sie trotzdem besser machen will. Es ist die Partei, deren Kanzler zum Bildungskanzler werden will. Und dafür von einem hessischen Gymnasiallehrer öffentlich abgewatscht wurde. Der Unterschied zwischen Gerhard Schröder und mir: Bei mir wurde es nach der Ohrfeige besser.

Zu Hause hielt Anna die Zeitung hoch. „Hier steht, dass es in Deutschland 45 Tage braucht, um ein Unternehmen zu gründen, aber in den USA nur vier Tage.“ Ich musste lachen: 45 Tage! Für die Einschulung von Jonas in eine Schule, die uns nicht von Staats wegen zugewiesen wurde, hatten wir nicht vier, nicht 45, sondern 445 Tage gebraucht. „Stell dir mal einen Investor vor, der in die wichtigste Ressource eines Landes Geld, Aufwand und Zeit investieren will. Der Arbeit schaffen und das Bildungsniveau der Menschen heben will. Der die zukünftigen Nobelpreisträger, Grand-Prix-d’Eurovision-Finalisten und Vielseitigkeitsgoldmedaillengewinner aus Deutschland ausbilden will …“

„Mir fehlt da die Vorstellungskraft“, sagte Anna.

„Und dann stell dir vor, was dieser Investor über sich ergehen lassen muss“, sagte ich. „Zuerst muss er sich nackt vor einem Amtsarzt ausziehen, auf einem Strich balancieren und Männchen malen. Dann muss er seinen Wohnsitz verlegen, um sein Gewerbe da anmelden zu können, wo er hinmöchte. Dann wird sein Antrag abgelehnt, aber klagen kann er eigentlich auch nicht. Dann hängt er über ein Jahr mit seiner Investitionsentscheidung in der Luft. Nie ist klar, wie weit das Verfahren bereits fortgeschritten ist. Dann darf er nur die Hälfte seiner Freunde mitbringen und muss die anderen in Weiterbildungsmaßnahmen unterbringen. Dann bekommt er drei Tage vor dem Ablauf der Frist grünes Licht.“ Ich sah meine Frau an. „Geht man so mit Menschen um, die die wichtigste Investition in die Zukunft dieses Landes tätigen wollen?“

„Ich fürchte, ja“, sagte Anna. „Auch wenn ich jetzt klinge wie die Sprecherin des BDI.“

„Aber warum sollte der Investor es dann tun?“, fragte ich.

„Vielleicht, weil ihm sehr viel am Humankapital liegt, in das er investiert.“

Richtig, das Humankapital. Das hatte sich schon extrem flexibel und motiviert gezeigt. Als Jonas nach dem ersten regulären Schultag nach Hause kam, wollte er die Hausaufgaben outsourcen. Aber ich lehnte diesen Arbeitsauftrag ab. Dann zeigte er sich als ausgebuffter Verhandlungsführer im Tarifpoker. Er verließ das Zimmer und ließ seinen Arbeitgeber sitzen. Sein letztes Wort: „Hausaufgaben lehne ich ab.“

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zur Einschulung? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN