: Die verrückten Tomaten
AUS MEIDUM KARIM EL-GAWHARY
Die wundersame Pyramide von Meidum war schon immer da, zumindest ragt dieses eigentümliche Königsgrab seit viereinhalb Jahrtausenden hundert Kilometer südlich von Kairo majestätisch aus dem Sand. Die Seiten der fünfgrößten Pyramide Ägyptens sind abgerutscht. Übrig geblieben ist nur noch ein gigantischer quadratischer Kern.
Ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt erstreckt sich eine Farm. Sie ist erst ein paar Jahre alt, aber mitten in der Wüste gelegen kommt sie ebenfalls einem kleinen Wunder gleich. Emsig reißt eine Gruppe ägyptischer Landarbeiter mit ihren Harken den Wüstenboden auf und säht aus. Doch damit nicht genug. Daneben steht ein weiteres Wunder, oder besser gesagt zwei. Die beiden Ägypterinnen Samira und Iman überwachen die Männer bei der Arbeit. Ihnen gehört die Farm.
Vor sechs Jahren sind sie hierher gekommen, um die Wüste zu begrünen. Weit weg von Kairo, der Stadt, aus der sie stammen, mitten in die männerdominierte Welt des südlichen Oberägyptens. Samira al-Melegi, 56 Jahre alt und beurlaubte Beamtin der staatlichen Fernsehverwaltung, verwirklicht hier ihren Traum, gemeinsam mit ihrer Geschäftspartnerin Iman al-Scheich, einer 48-jährigen Angestellten im Gesundheitsministerium, die jedes Wochenende aus Kairo anreist.
Der Begriff „bei Null anfangen“ trifft wahrscheinlich selten so zu wie in dieser Wüstenfarm. „Ich war die Erste hier. Es gab nur Wüste. Nachts schlichen die Wölfe um das Haus“, erinnert sich Samira. „Aber ich was glücklich. Morgens waren die Wölfe weg. Zunächst habe ich mit einem Lastwagen Wasser bringen lassen und habe begonnen zu pflanzen“, fügt sie hinzu. „Das war der Anfang.“ Sie deutet auf eine lange Hecke von dunkelgrünen Koniferen, die ihr etwas mehr als acht Hektar großes Reich umranden. „Ich habe sie eingesetzt, damit sowohl die Nachbarn als auch der Wind ihre Grenzen kennen“, sagt sie. Die Wölfe bleiben inzwischen fern. Aber hinter der Hecke, wo nichts wächst, so weit das Auge reicht, streift noch ein verwilderter Hund umher. Er streckt seine Nase in den Wind, in der Hoffnung, den Geruch nach etwas Essbarem aufzufangen.
Die Wüste zu begrünen ist ein alter Traum der Menschheit. Vor allem Neulandgewinnung ist echte Pionierarbeit. Die unfruchtbare Mischung aus Sand und Steinen sieht nicht vielversprechend aus. Zunächst muss der Boden vorbereitet und gepflügt werden, dann werden hunderte von Meter Bewässerungsschläuche verlegt, wird gepflanzt und ausgesät und schließlich der Wasserhahn aufgedreht. An jeder Pflanze oder vielmehr an jeder Stelle, an der einmal eine wachsen soll, sind an den Schläuchen kleine Düsen angebracht. Tropfen für Tropfen wird dann die Wüste in ein fruchtbares Feld umgewandelt.
Kaum zu glauben, dass dieses Stück Land vor wenigen Jahren noch Wüste war. Die Farbe Grün hat das Gelb und Grau abgelöst. Dichte Auberginenfelder, Kohl- und Kartoffeläcker erstrecken sich über das Land. Besonders betriebsam geht es auf den Tomatenfeldern zu, wo gerade geerntet wird.
Wasser ist Leben, lautet die Gleichung. „Und alles, was lebendig ist, ist aus Wasser gemacht “, heißt es auch in einer Sure des Korans. „Das Wasser, das wir benutzen, kommt aus dem Niltal. Es ist überschüssiges Drainagewasser von den dortigen Feldern“, erklärt Samira. Die Regierung habe nicht gewusst, wohin damit. „Wir haben es untersuchen lassen, und es stellte sich heraus, dass es für die Landwirtschaft geeignet ist“, erläutert sie, während sie am Rande eines Wasserbeckens von der Größe eines halben Handballfeldes sitzt. Sie deutet auf ein Rohr, aus dem unablässig das kostbare Nass plätschert. Mit einigen anderen benachbarten Bauern haben Samira und Iman zusammengelegt und eine drei Kilometer lange Pipeline vom Niltal hierher bauen lassen. Jeder Bauer hat mehrere Stunden in der Woche Zeit, seine Bewässerungsbecken zu füllen.
Neulandgewinnung ist in Ägypten nicht Neues. Zu beiden Seiten des Niltales wird seit Jahrzehnten die Wüste begrünt. Die einzige Chance, dass die Landwirtschaft mit dem Bevölkerungswachstum mithalten kann. Denn über 95 Prozent des Landes sind heute Wüste, der Rest besteht aus einem Grünstreifen entlang dem Nil, dem Nildelta und ein paar Oasen. Der fruchtbare Teil des Landes entspricht etwa der Fläche von Niedersachsen. Dort leben fast 80 Millionen Menschen, und jedes Jahr werden es eine Million mehr.
Das bescheidene Haus von Samira und Iman ist aus Ziegeln gebaut und noch unverputzt. Auf der Terrasse sorgt ein Generator für Strom. Daneben liegt ein kleiner Stall. Ein Dutzend Schafe und Ziegen mümmeln dort friedlich an ihrem Futter. Bis sich wieder einmal die Herren der Schöpfung in den Vordergrund drängen. Ein schwarzer Ziegenbock schiebt die weiblichen Mitglieder der Herde mit einem lauten Meckern zur Seite, um zum Futter zu gelangen.
Im Haus herrschen andere Verhältnisse. Samira und Iman befinden sich in einer mitunter lautstarken Diskussion mit einem gemütlich aussehenden Mann, der in seiner Funktion als Einkäufer einer Chipsfabrik auf diese entlegene Wüstenfarm gekommen ist. Es geht um Qualität und Preise der Kartoffelernte. Nervös steckt sich Samira eine Zigarette nach der anderen an. Ein paar der benachbarten Bauern sind zur Unterstützung der Frauen vorbeigekommen. Am Ende einigen sich beide Seiten gütlich über den Preis. Der dicke Kartoffelhändler und die beiden Frauen zeigen sich zufrieden.
„Das Schwierigste war am Anfang, sich als Frau durchzusetzen“, erzählt Iman. Sie habe es hier vor allem mit südägyptischen Landarbeitern zu tun. „Die haben am Anfang nicht akzeptiert, dass da eine Frau einfach in die Wüste kommt, um das Land zu bearbeiten“, fährt sie fort. „Die dachten, wir würden das niemals schaffen.“ Und wie zum Beweis ihrer mittlerweile erworbenen Durchsetzungsfähigkeit wird sie von einem der Landarbeiter unterbrochen. Er ist gekommen, um den Lohn für seinen Freund einzufordern, der sich offensichtlich nicht selbst hertraut. „Wofür? Was hat der eigentlich gearbeitet?“, fragt Iman in ihrem blauen Jeansshirt mit Donald-Duck-Aufdruck resolut. Der Mann weicht einen Schritt zurück und murmelt „Seien sie doch nicht so wütend.“ Aber da kommt Iman mit einem „Vergiss es“ erst richtig in Fahrt. „Ich habe ihm Geld gegeben, dass er den Wasserhahn auf- und zudreht. Er hat ihn geöffnet und nicht wieder zugedreht und dabei die Felder überflutet“, entgegnet Iman mit erhobenem Zeigefinger – Ende der Diskussion.
Draußen auf dem Tomatenfeld hat Samira das Kommando. Frauen pflücken die Tomaten von den Stauden und bringen sie in Eimern zur Sammelstelle. Dort werden sie von Männern in Kisten aus Palmenholz sortiert und gestapelt. Für die Männer auf dem Feld ist es inzwischen ganz normal, unter der Aufsicht einer Frau zu arbeiten. Das war aber nicht immer so. „Da kamen diese Frauen aus Kairo, wir kennen solche aus der Stadt. Die haben keine Ahnung von Landwirtschaft“, erzählt der Landarbeiter Mahmud Ahmad offen. Und ausgerechnet die wollten die Wüste begrünen. „Wir dachten, die Frauen geben sicherlich bald auf und verkaufen wieder.“ Aber? Mahmud deutet auf das Tomatenfeld hinter sich. „Dann haben sie das hier geschaffen. Das hat uns überzeugt.“
Doch mit dem kleinen Stück Grün in der Wüste gibt es noch ein Problem. Samira und Iman konnten bisher nur das Nutzungsrecht vom Staat kaufen. Laut Gesetz müsste ihnen der ägyptische Staat nach einer erfolgreichen Kultivierung der Wüste das Land verkaufen und überschreiben. Aber der Staat lässt auf sich warten. Der Wert der Farm hat sich erhöht, so dass inzwischen auch Spekulanten Interesse zeigen. Die korrupten Beamten halten die beiden Frauen also hin. „Wir wollen dieses Land für einen angemessenen Preis vom Staat kaufen“, sagt Samira wütend. Schließlich seien sie keine Spekulanten, die irgendetwas kaufen und zu einem höheren Preis weiterverkaufen wollen. „Wir haben dieses Land kultiviert und ernten, was die Menschen hier essen können“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Natürlich will ich Profit machen, damit ich das Geld wiederbekomme, das ich hier investiert habe.“ Die Regierung soll helfen, dass diejenigen, die die Wüste begrünt haben, belohnt werden, fordert sie. „Um das Projekt zu finanzieren, habe ich mein Auto, das Auto meines Mannes und das meines Sohnes sowie meinen ganzen Schmuck verkauft. Alles, um dieses Stück Wüste zu kultivieren.“
Samira und Iman wenden sich wieder ihren Wüstentomaten zu. Das Feld muss heute noch abgeerntet werden. „Al-Uta al-Magnuna“ – „die verrückte Tomate“ heißt es im ägyptischen Volksmund, weil deren Preis stark schwankt. Im Moment ist er wieder ganz oben, und ich kann damit endlich meine Schulden abzahlen“, zwinkert mir Samira zu.
Morgen früh, wenn die Sonne über der Pyramide von Meidum aufgegangen ist, kommt der Lastwagen, um die mit Tomaten prall gefüllten Palmenkisten abzuholen. Samira gibt erneut ihre Kommandos an die Arbeiter. Iman überprüft die Auberginen auf dem Nachbarfeld. Einst waren Samira und Iman ausgezogen, die Wüste zu begrünen – heute schreiten sie stolz ihre Felder ab.