: Stadt in Katastrophengelb
Der Waldbrandsommer ist vorbei. Vor dem erlösenden Regen waren zehntausende Menschen in der kanadischen Provinz British Columbia evakuiert worden. Ein Bericht vom großen Aufräumen
aus Kelowna JUDITH LUIG
Kelowna – die größte und mit ihrem Nachtleben, dem Shoppingparadies und jeder Menge Freizeitattraktionen attraktivste Stadt im Okanagan Valley, British Columbia – trägt Katastrophengelb. An Autoantennen flattern gelbe Bändchen, Läden und Häuser sind mit Riesenplastikbändern verziert, in den Schaufenstern türmen sich gelbe Plastikrosen, und Jacken und Pullover der Einwohner schmückt eine sonnenfarbene Schleife in der Art der Aidsschleife.
Die Bänder erinnern daran, dass man glücklich ist, ein Haus zu haben, das man schmücken kann. Denn ohne den Einsatz von über fünftausend Männern und Frauen von Feuerwehr, Polizei und Militär wäre die Touristenhochburg Kelowna, wären die Städte und Gemeinden in der Nähe der drei anderen großen Brände in British Columbia jetzt wahrscheinlich Asche. Rund 28 Millionen Liter Löschmittel, 35 Millionen Liter Wasser und der Regen, der am 9. September gegen zwei Uhr nachts endlich einsetzte, haben die Katastrophe verhindert.
Nordamerikas Helden haben wieder zugeschlagen und Kelownas Einwohner huldigen ihnen. Gigantische Schilder, verziert mit Lichterketten oder bunter Silberfolie, haben die Kelowner gebastelt und überall in der Stadt aufgestellt. „Thank you“ und „Our Heros“ steht darauf. Ein paar Nachbarskinder von der Turner Road haben mit zweihundert Heuballen ein Dankeschön ins Kornfeld geschrieben, für die Piloten der 42 Flugzeuge, die mit Wasser aus dem See die Waldbrände löschten.
Fred und Sheri Bourcier gehören zum ersten Schub von viertausend Evakuierten in ihrer Stadt. Das Haus der Familie liegt in Okaview, der teuersten Villengegend, wundervoll gelegen, am Hügel mit Blick ins Tal und auf den Okanagan-See. Aber leider liegt es auch am Rande des brennenden Waldes. Mit der drohenden Gefahr im Nacken hatte Bourciers Nachbar, schon lange bevor es nötig wurde, mit seiner Evakuierung angefangen. „Was hat der alles aus seinem Haus geschleppt“, erinnert sich Sheri. „Zuerst haben wir noch über ihn gelacht, aber dann haben wir selbst angefangen die Autos mit dem zu bepacken, was uns am wichtigsten ist.“
Zwei Tage lang fahren die 33-Jährige und ihr 36-jähriger Mann dieses Notgepäck in den Vans mit sich herum. Die beiden Söhne sind beim Großvater, außerhalb der Gefahrenzone. Als Bourciers am 31. August evakuiert werden, sind sie innerhalb von 45 Minuten startklar. Fred Bourcier macht noch schnell Videoaufnahmen vom Haus („damit wir uns daran erinnern, wie es aussieht“), dann laufen sie durch den Ascheregen und überlassen das Grundstück seinem Schicksal. Ebenso wie den Kater Teddy, der nicht aufzufinden ist.
Was nimmt man als Erstes mit? „Fotos.“ Aufnahmen von der Hochzeit, die ersten Bilder der beiden Söhne sowie Bastelarbeiten aus dem Kindergarten, Geschenke von Sheris verstorbener Mutter. „So etwas kann man nicht ersetzen“, sagt Fred, „für den Rest gibt es Versicherungen.“ Acht Tage lang wissen sie nichts von ihrem Zuhause. Außer dass das Feuer keine halben Sachen macht. „Entweder das Haus steht – oder es ist komplett abgebrannt“, erklärt Fred nüchtern. Acht Tage, in denen ein Viertel der 150.000-Einwohner-Stadt evakuiert wird und ins Tal strömt, zuzüglich derer, die bereits aus drei anderen Brandherden evakuiert wortden sind. Man zieht zu Verwandten, Freunden oder ins Hotel. Als alle Unterkünfte überfüllt sind, werden im Stadion Feldbetten aufgestellt.
Fred und Sheri Bourcier sitzen in ihrer Notunterkunft (einem Haus direkt am See mit eigenem Strand, alles bezahlt von ihrer Versicherung) und erzählen von der Zeltlagerstimmung in der völlig verqualmten Stadt. „Die Pubs waren voll“, sagt Sheri. „Schließlich waren ja durch Armee und Feuerwehrmänner jede Menge junger Menschen in der Stadt.“ Allerdings weiß sie als pharmazeutische Vertreterin auch, dass der Verkauf von Antidepressiva Rekordzahlen schrieb.
Über eine Woche lebte die Stadt in einer Mischung aus Endzeitstimmung und Hysterie, immer die roten Flammen im Blick und eingehüllt in rauchige Luft voller Aschepartikel. In dieser Atmosphäre entwickelten sich die Hilfs- und Marketingprojekte rund um das Okanagan-Feuer: Die „My Hero“-Rose, deren kanadische Anbaurechte Maria Byland für ihre Großgärtnerei sicherte, gewidmet dem BC Fire Relief Fund. Ein Viertel ihres Erlöses ist für die Opfer des Feuers bestimmt (man rechnet mit einer Spende über 300.000 Dollar), ein Buch mit persönlichen Danksagungen für die Retter, das in den nächsten Wochen in Druck gehen soll, und natürlich ein Benefizkonzert namens „Trestlestock“ (in Erinnerung an Sarsstock in Toronto), das bislang nur geplant ist. Von dem Geld sollen die abgebrannten zwölf historischen Eisenbahnbrückenstücke des Myra Canyon aus dem Jahr 1914 wieder aufgebaut werden.
Die Sikh-Gemeinde der Gegend hat bislang für den Aufbau der Bahnstrecke fünfzigtausend Dollar gespendet und weitere fünfzigtausend versprochen. Die buddhistische Tzu Chi Foundation aus Vancouver hat eine Million Dollar für Geschädigte, die während des Feuers kein Einkommen hatten, in Aussicht gestellt. Umgerechnet etwa achthundert Dollar pro Kopf.
Für die Bourciers kommt nach ein paar Tagen die erste gute Nachricht aus der brennenen Nachbarschaft. Teddy, der Kater, lebt. „Noah’s Wish“, eine Organisation von Tierfreunden, ursprünglich aus dem amerikanischen Virginia, hat anhand von Listen der Besitzer in den abgesperrten Bezirken zurückgelassene Tiere gerettet. Zwei Wochen lang haben sie ihr Lager im Recreation Center in Kelowna aufgeschlagen und insgesamt fast tausend Tiere vor den Flammen bewahrt. Bis die Bourciers wieder in ihr Haus zurückkönnen, haben „Noah’s Wish“ Teddy bei Pflegeeltern untergebracht.
Am Abend des neunten Septembers sind die Brände endlich stabilisiert und sechzig Prozent des Feuers gelöscht. 650 evakuierte Familien, darunter auch die Bourciers, werden in die Baptistenkirche eingeladen. „Das ist die größte hier“, erklärt Sheri. Jeder bekommt einen computererstellten Stadtplan in die Hand gedrückt und kann sich jetzt selbst anhand der Legende ausrechnen, ob das Haus steht oder nicht. Für den psychischen Notfall stehen Berater und Psychologen bereit. Am nächsten Morgen fahren Busse mit 150 betroffenen Familien in die tagelang streng abgesperrte Gegend am Hang. Fred und Sheri Bourcier gehören nicht dazu. Ihr Haus steht!
Wenn man heute die Straßen entlangfährt, kann man sich kaum vorstellen, wie sich diese Familien gefühlt haben, als sie sich selbst davon überzeugen konnten, dass von ihrem Haus nicht mehr als Asche übrig geblieben ist. Nur anhand der gelben Feuerwehrabsperrbänder – Vorbilder für die Schleifen – kann man noch erahnen, dass die verbrannten Gegenstände die Überreste eines Hauses sind. Noch nicht mal Grundmauern sind übrig geblieben, nur hier und da ein verkohlter freigelegter Kellerraum oder ein Kaminrest, der jetzt einsam die Aussicht auf den See versaut.
Das Feuer hat sich springend ins Tal gefressen und so manches unerwartet unversehrt gelassen. So stehen umrandet von verbrannten Pflanzen ein riesiger Dekoplastikpilz, neben der Asche eines Bootes eine blaue Kinderrutsche oder ein Basketballkorb, der vor einem Haufen Garagen in die blaue Luft ragt. Drei Stunden nachdem man die ersten Bewohner zurück in das Gebiet lässt, wird die Gegend freigegeben und der Feuertourismus beginnt, der auch jetzt noch, Tage nach dem Rückzug des Brandes, stark ist.
Sheri Bourcier steht vor ihrem übel riechenden Haus und hält einen kleinen Plastikfeuerwehrmann – ihren Gartensprenger – hoch. „Ich frage mich, was die Feuerwehrleute wohl darüber gedacht haben.“ Gesehen haben müssen sie ihren Talisman, denn schließlich waren die Flammen schon auf dem Dach der Bourciers, und die Feuerwehrleute mussten das ganze Haus einwässern, um es zu schützen. Hinterlassen haben die Helden nur die Überreste ihrer Lunchpakete im Garten und ihre Fußspuren auf Sheris Wäsche, die sie in der Hektik gerade noch aus der Maschine geholt und einfach auf dem Boden verteilt hatte. Der Rettungsschaden bei Bourciers wird etwa sechzigtausend Dollar sein. Auf die Region kommt ein Riesenbedarf an Materialien und Arbeitskräften zu. Die Wiederaufbauarbeiten könnten sogar für einen Boom in der Wirtschaft sorgen, hofft Fred.
Bis zu 545 Millionen kanadische Dollar wird die immer noch nicht abgeschlossene Bekämpfung der über 2.800 Waldbrände in BC voraussichtlich kosten. Mehr als fünfzigtausend Menschen sind zu Hochzeiten der Flammen evakuiert gewesen. Welche Kosten hierdurch entstanden sind und wie teuer der Wiederaufbau wird, ist noch nicht abzusehen.
Doch sieht man mal vom Materiellen ab: Die Katastrophe ist nicht eingetreten. Auch wenn das Feuer ganze Außenbezirksviertel und sogar eine Gemeinde fast vollständig zerstört hat, so gab es glücklicherweise keine Toten. Was vom drohenden Inferno bleibt, ist verbrannter Wald – allein in dieser Gegend waren es 2.500 Quadrakilometer –, die kläglichen Überreste von 460 Häusern, heftige Diskussionen mit Versicherungen und Wiederaufbaustress.
Doch was den meisten Menschen vor allem bleiben wird, ist die Erinnerung an einen Hype von Gemeinschaft und Heldentum während drei Wochen im Spätsommer. Eine Zeit, in der man sich mit Menschen verbrüderte, neben denen man seit Jahren wohnte, aber die man nie beachtet hatte, eine Zeit, in der jeder Supermarktbesuch mit ebenso spontanen wie unendlichen Diskussionen über das Feuer verbunden war, in der die Einwohner der besonders bedrohten Gebiete beim bloßen Nennen ihrer Adresse Beileidsbekundungen bekamen und in der jeder zum Wetterexperten wurde.
Das Phänomen Kelowna ist kein Einzelfall: Seit dem 11. September 2001 scheint jede Bedrohung in der westlichen Welt einem Ritual aus Benefiz und Solidarität unterworfen, sei es Sars, der Stromausfall in Toronto oder der Hurricane in Neu Schottland.
Oben am Hügel, beim Anblick der Häuserleichen der Okaview Road, ist die Stimmung gedrückt, doch wenn man im Tal mit den Menschen aus Kelowna spricht, hat man fast das Gefühl, das Okanagan Mountain Fire hätte eine Euphorie in der Stadt ausgelöst. Die Feuerwehrleute treten in ihren Gemeinden auf und reden während der Predigt von Pflicht und Leidenschaft, die Leserbriefe in den Zeitungen zelebrieren die Hilfs- und Einsatzbereitschaft von Nachbarn, Politikern und Freunden, und sogar die abgesperrten verbrannten Grundstücke sind mit Schildern bedacht, gebastelt von den ehemaligen Einwohnern: „Thank you, our Heros, we know you did your best.“
JUDITH LUIG, 28, ist Redakteurin im taz.mag. Ihre letzte Nachricht aus dem fernen Westen Kanadas: „Bourcier junior hat übrigens in der allgemeinen Feuereuphorie schon versucht, den Balkon seines Opas abzufackeln. Wollte wohl auch ein Held werden.“