: „Eine Reise in die eigene Kindheit“
Tiger spielen die Hauptrolle in Jean-Jacques Annauds Film „Zwei Brüder“. Ein Gespräch mit dem Regisseur über die Laute der Großkatzen, den Unterschied zwischen Zirkusdressur und Filmdreh und das Sozialleben der vermeintlichen Einzelgänger
Interview CORD RIECHELMANN
taz: Herr Annaud, den Film „Zwei Brüder“ zu drehen, sagten Sie in einem Interview, sei wie eine kostenlose Psychoanalyse gewesen. Was meinten Sie damit?
Jean-Jacques Annaud: Es ist immer wunderbar, in der Nähe von Tieren zu sein. Deshalb halten Menschen Hunde und Katzen. Und Kinder brauchen die Nähe zu Tieren und Haustieren, weil sie sie besser verstehen als erwachsene Menschen. Kinder beobachten Tiere sehr genau und verstehen deren Gefühle – das Tier hat Hunger oder Angst oder es ist zornig. Sie empfinden sich selbst den Tieren näher als erwachsenen Menschen, Tiere sind ihre besten Freunde. Als Erwachsener mag ich es, mich an die einfachen Dinge zu erinnern. Das hilft mir auch, das Tier in mir selbst zu verstehen. Natürlich bin ich ein Mensch, aber es beschämt mich nicht, das Tierische in mir zu sehen und anzunehmen. Insofern war die Arbeit am Film auch eine Reise zurück in die eigene Kindheit.
Zu den überraschendsten Facetten Ihres Films gehören das reiche Lautrepertoire der Tiger und dessen Einsatz. Zum Beispiel die Laute der jungen Tigerbrüder in der Szene, in der sie mit einer Kokosnuss spielen. Woher haben Sie die Rufe?
Wir haben eine Art Tonarchiv der Tigerlaute angelegt, mit mehr als 40 verschiedenen Lauten, die auch alle im Film zu hören sind. Die Rufe haben wir über Jahre gesammelt und im Film immer dann von „außen“ eingesetzt, also nachträglich eingespielt, wenn die jeweilige Situation nicht wirklich gedreht werden konnte, also animiert werden musste. Wie in der Szene mit den saugenden Tigerbabys, in der die Tigermutter zu nervös war und wir die Jungen an einer Attrappe trinken ließen.
Ist es für Einzelgänger, als die Tiger gewöhnlich bezeichnet werden, nicht ungewöhnlich, mit einem so großen Lautrepertoire ausgestattet zu sein?
Der Umfang ihrer Lautsprache hat auch mich überrascht. Besonders im Unterschied zu dem, was ich von Bären kannte. Die haben wirklich nur zwei verschieden Laute; sie sind tatsächlich Einzelgänger. Tiger sind das nicht unbedingt, es gibt sogar Beobachtungen, dass männliche Tiger sich fürsorglich um die Kinder einer Tigerin kümmerten. Das widerspricht allen bisherigen Berichten, ist aber glaubwürdig fotografisch dokumentiert. Dass Tiger bisher meist als Einzelgänger beschrieben wurden, hängt mit der Geschichte ihrer Beobachtung zusammen. Die ersten Berichte über Tiger wurden in der Regel von Jägern verfasst, und Jäger lauerten Tigern auf, wenn die selbst jagten. Und im Unterschied zu Löwen jagen Tiger tatsächlich immer allein. In letzter Zeit nehmen die Hinweise zu, dass Tiger, wenn sie nicht gerade jagen, ein Sozialleben entfalten können. Ihr Lautvokabular ist dafür ein Indiz.
Es gibt in Ihrem Film eine dramatische Wendung genau in dem Moment, als die beiden Tigerbrüder in der Arena aufeinander gehetzt werden und sich erkennen. „Kinship-Recognition“, Verwandtenerkennung, ist in den neueren Verhaltenswissenschaften ein heftig umstrittenes und diskutiertes Phänomen. Haben Sie diese Auseinandersetzungen verfolgt?
Ja. Und was im Film zwischen den beiden passiert, ist Fiktion. Es gibt für Tiger keinen Hinweis darauf, dass sich getrennte Geschwister als verwandt erkennen, wenn sie wieder zusammengeführt werden. Bei Hunden, Wölfen und Kojoten hat man allerdings Anzeichen dafür gefunden, dass so etwas möglich ist. Und ausgeschlossen ist es auch für Tiger nicht.
Die Art und Weise, wie Sie die Laute der Tiere – es betrifft ja nicht nur Tiger, die Zibetkatze, die Vögel und Elefanten werden in dieser Hinsicht ja genauso behandelt – im Film einsetzen und immer wieder Erkenntnisse der Verhaltensforschung ins Bild setzen, würde ich als naturalistisch bezeichnen wollen, ähnlich wie Sie mit den Frühmenschen in Ihrem dialogfreien Film „Am Anfang war das Feuer“ verfahren sind. Können Sie dem zustimmen?
Ja, natürlich. Obwohl ich betonen möchte, dass die Geschichte eine Fabel ist. Aber dass ich die Tiger als wilde Tiere, die sie bleiben sollen, sehen möchte, das können Sie naturalistisch nennen.
Sie lassen in Ihrem Film überhaupt keinen Zweifel aufkommen, dass die Dressur von Tigern für den Zirkus ein grausames Geschäft war und noch ist. Ihre Tiger zeigen aber keine Verhaltensabnormitäten. Was unterscheidet Ihre Arbeit von der historischen Zirkusdressur?
Von den Grausamkeiten, die zur Anwendung gekommen sind, wenn in der Zirkusdressur ein Tiger gebrochen wurde, zeige ich höchstens zehn Prozent. Die Wirklichkeit war noch schlimmer. Wir haben mit 30 Tieren gearbeitet und hatten immer mehrere am Set. Das heißt, wir konnten uns nach ihnen richten. Wenn einer nicht wollte, hörten wir entweder auf oder arbeiteten mit einem Double weiter. Außerdem richteten wir uns ganz nach dem Temperament der Tiere. Einer ist ängstlicher als ein anderer, ein anderer wiederum bewegt sich mehr als der trägere Bruder. Wir konnten sie ihren Fähigkeiten gemäß einsetzen und hatten neben den wissenschaftlichen Beratern mit Thierry Le Portier einen der erfahrensten Tiertrainer dabei. Seit 35 Jahren lebt und arbeitet er mit Tigern; er kann sie tatsächlich „lesen“. Aber das kostet natürlich Zeit – und dementsprechend lange haben wir gedreht.