: „Grotesk verzerrtes Islambild“
Der Marseiller Großmufti Soheib Bensheik kämpft gegen eine allzu wörtliche Lesart des Korans. Ein Gespräch über islamische Demonstrationen, islamistische Auswüchse und den „Kopftuchkrieg“ in einem republikanischen Frankreich
Interview MICHAEL BRIEFS
taz: Soheib Bensheik, Sie wollen den Islam an die europäischen Bedingungen anpassen. Ist die Diskussion darüber, wie der Koran neu zu verstehen ist, für Sie eine Voraussetzung für die Akzeptanz muslimischer Einwanderer in Gesellschaften des Westens?
Soheib Bensheik: Der Koran muss heute auf jeden Fall neu interpretiert werden. Denn man kann ihn nicht mehr nur als eine Sammlung von Vorschriften verstehen. Er bleibt zwar die wichtigste Orientierungshilfe und Quelle der Inspiration für die Muslime. Aber die europäischen Muslime stehen, als nur eine von mehreren Minderheiten in Europa, vor der großen Herausforderung der Integration in westliche Gesellschaften. Der Koran gibt keine Antworten auf die dadurch entstehenden Probleme. So bleibt nichts anderes, als die Erkenntnis, dass das, was aus dem Koran abzuleiten ist, sich nur aus dem Verständnis der jeweiligen sozialen und politischen Umgebung erschließt und individuell unterschiedlich ist.
Wer kann den Islam reformieren?
Jeder sollte lernen, den Koran in Abhängigkeit zu seinen persönlichen intellektuellen und kulturellen Hintergründen zu lesen. Denn es ist völlig legitim, dass man den Koran mit Hilfe seines eigenen Intellektes interpretiert. Entscheidend ist nur, dass dies nicht zu dogmatischen Heilslehren führt. Das wäre fatal. Ich hoffe, dass sich jede Generation die Freiheit neu erkämpft, den Koran wieder neu zu interpretieren.
Nicht alle Muslime teilen Ihre Ansichten. Ihre Koraninterpretationen rufen insbesondere islamistische Gruppen auf den Plan, die sie offen als einen ihrer Hauptfeinde bekämpfen.
Islamistische Gruppen haben den Islam für ihre Verbrechen missbraucht. Ihr Fanatismus hat die islamische Gesellschaft verändert. In Algerien führte das zu furchtbaren Auswüchsen. Tausende von unschuldigen Menschen wurden ermordet. Die Angst der Menschen in Europa vor dem islamistischen Islam ist daher berechtigt. Wenn man aber genauer hinschaut, wie zum Beispiel nach Algerien, erkennt man, dass die meisten Algerier nach wie vor Anhänger eines liberalen, demokratischen Systems sind. Das passt nicht in das grotesk verzerrte Islambild, das im Westen vermittelt wurde. Die Fundamentalisten hetzen gegen mich, weil ich in ihren Augen vom rechten Glauben abgekommen sei. Seit meinen ersten Publikationen stehe ich auf den Todeslisten der algerischen GIA. So haben es die Religionswächter der Islamischen Republik Iran mit Salman Rushdie auch gemacht. Auf den Polizeischutz, unter den mich der damalige französische Innenminister Chevènement stellen wollte, habe ich gerne verzichtet.
Die französische Bevölkerung und damit auch die Mehrheit der 5 Millionen Muslime haben sich jetzt demonstrativ gegen die Forderung der Entführer nach Rücknahme des Kopftuchverbots zur Wehr gesetzt. Der in den Medien angekündigte „Kopftuchkrieg“ zu Schulbeginn blieb aus. Haben die französischen Muslime über Nacht zur republikanischen Tradition Frankreichs gefunden?
Ich gehe davon aus, dass sich das Gros der Muslime in Frankreich mit dem Terror, der im Namen des Islams verübt wird, nicht identifiziert und der öffentlich gezeigte Abscheu über die Geiselnahme echt ist. Deshalb würde ich die Demonstrationen, wie wir sie derzeit erleben, auch gar nicht als so sensationell sehen. Natürlich gibt es andere Darstellungen. Aber wir können ja auch ein bisschen genauer hinschauen. Und dann sehen wir, dass bei Organisationen, die dem Gedankengut der Muslimbrüder nahe stehen, die ja auch sehr stark im Repräsentativrat der französischen Muslime vertreten sind, Gewalt nie ein Thema war. Diese organisierten Muslime haben sich alle verbal für die Freilassung der beiden im Irak entführten französischen Reporter eingesetzt.
Und in der Auseinandersetzung mit dem Staat um das Kopftuch?
Da haben die Vertreter des politischen Islams natürlich auch erkannt, dass sie die schwächere Seite sind. Von einer Konfrontation mit dem Staat konnte man sich nur einen schweren Rückschlag versprechen. Ich rede jetzt von den Islamisten und ihrer Ideologie, die ja beileibe nicht immer auf Gewaltanwendung aus ist. Aber die unpolitischen Muslime waren es ja auch nicht gewesen, die das Kopftuch forderten. Am Ende ist das Kopftuchverbot eine innenpolitische Debatte, und da haben irakische Entführer überhaupt nichts verloren. Egal, ob man für oder gegen das Kopftuch ist. Die bewaffneten Terrorgruppen im Irak haben uns Muslime in Frankreich gewissermaßen mit in Geiselhaft genommen.
Sie sind Mufti von Marseille, aber Ihre Tochter und Ihre Frau tragen keinen Schleier. Als einer der wichtigsten Reformer des Islams in Frankreich empfehlen Sie hier lebenden Musliminnen in Schule und Beruf, das Kopftuch abzulegen.
Auf das Kopftuch in Schule und Beruf zu verzichten, ist besser, als Nachteile in der Ausbildung und Karriere in Kauf zu nehmen. Der Laizismus in Frankreich und die Bürgerrechte schützen uns als Muslime. Wenn Mohammad heute leben würde, und gläubige Musliminnen kämen zu ihm und fragten, ob sie, da sie durch das Tragen des Schleiers stigmatisiert würden und Nachteile haben, den Schleier ablegen dürften, wüsste man nicht, ob der Prophet ihnen dieses verbieten würde.
Können Sie das genauer fassen? Vielleicht anhand eines Beispiels aus der Lebenspraxis französischer Musliminnen.
Damals sind die Musliminnen zu ihm gekommen und haben gesagt: „Wir wollen den Schleier tragen, damit wir nicht belästigt werden.“ Der Schleier ist ursprünglich eben kein religiöses Symbol. Frauen haben heute Zugang zu allen Bereichen der Gesellschaft und sie bereichern diese durch ihr Tun. Der Schleier signalisiert nicht mehr die Würde der Frau, sondern Persönlichkeit, Bildung, Erfolg usw. Demgegenüber existiert der Geist der heiligen Texte weiter, aus dem heraus christliche Nonnen bis heute den Schleier tragen. Dennoch käme eine wortwörtliche Lesart der Texte und des Korans, mit der Folge einer allgemeinen Kleiderordnung, einer Karikatur des Konzeptes von Gott gleich.
Gibt es so etwas wie einen speziellen Weg für Muslime, die in Europa leben? Kappt er die Wurzeln ihrer Herkunft? Drängende Fragen, zumal in Frankreich, wo viele algerische Immigranten leben?
Natürlich wird das sehr intensiv diskutiert. Algerien hatte sozusagen die längste koloniale Besetzung aller islamischen Länder. Daher kommen unsere Auseinandersetzungen und Bruchpunkte. Wir haben mehr mit algerischen GIA-Fundamentalisten zu tun, die vor einigen Jahren Anschläge in der U-Bahn gemacht haben. In der Metro in Paris. Und da muss man herausstellen, dass sich gegen diese Art des Terrorismus damals ganz viele unserer Muslime gewandt haben. Muslime in einer Minderheitssituation werden alles Erdenkliche tun, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass man irgendetwas mit Anschlägen von irgendwem irgendwo zu tun hat.
Wie sähe eine solche Minderheitstheologie für den Islam denn aus?
Unsere Muslime werden die republikanische Tradition Frankreichs, mit der eigentlich die Trennung von Staat und Kirche im Gefolge der französischen Revolution aufs Engste verbunden ist, nie in Frage stellen. Denn sie profitieren hier natürlich von den Freiheiten in der pluralistischen Gesellschaft. Diese sind für europäische Muslime eine wirkliche Chance, neu darüber nachzudenken, wie man den Islam reformieren kann. Wir wollen unsere Religion an den europäischen Rechtsstaatsgedanken und die hiesige soziale Wirklichkeit anpassen.
Das Interview mit Soheib Bensheik ist ein gekürzter Vorabdruck aus: Christoph Burgmer: „Streit um den Koran. Die Luxenberg-Debatte“. Standpunkte und Hintergründe, Hans Schiler Verlag, Berlin, September 2004, 16 Euro. (Rezension dieser Sammlung kritischer Koraninterpretationen: Seite 16)