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Archiv-Artikel

Eine Gewissenhafte

Am nächsten Tag war sie wieder im Wahlkreis. „Ich hab dann ganz normal meine Arbeit gemacht“

aus Villingen-Schwenningen KIRSTEN KÜPPERS

Mittwochmittags ist wenig los im Hallenbad von Villingen-Schwenningen. Das Nichtschwimmerbecken ist leer. Im Whirlpool sitzen ein paar Rentner. Im großen Becken schwimmt eine Frau. Sie zieht ihre Bahnen. Hin. Her. Hin. Die Frau ist allein und ganz bei sich. Es ist Christa Lörcher von der SPD. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Christa Lörcher. Ehemalig heißt bis vor etwa einem Jahr. Jetzt hat Christa Lörcher Ruhe. Jetzt kann sie schwimmen.

Die Ruhe gibt es nur im Becken. Bei den Umkleidekabinen holt das Frühere sie schon wieder ein. Ein Mann eilt heran, schüttelt ihr die Hand, eine Mutter mit Kind winkt hallo. Und als Christa Lörcher mit feuchten Haaren draußen in ihr kleines rotes Auto steigt, stolpert eine Frau auf sie zu, die ruft: „Es tut mir in der Seele weh, dass Sie nicht mehr im Bundestag sind. Gerade jetzt brauchen wir da so aufrechte Leute wie Sie.“

Und es ist ja klar, dass die Menschen kommen und grüßen und sich erinnern. Jetzt, wo es wieder eine ähnliche Situation gibt. Bei ihr selbst kommen ja auch die Bilder hoch von damals. Das Ereignis, mit dem Christa Lörcher berühmt geworden ist. Als Widerspenstige. Als eine, die sich nicht fügt. Jetzt, wo es wieder um eine Entscheidung im Parlament geht. Wo der Bundeskanzler und die Fraktion Druck ausüben auf fünf Männer und eine Frau. Nur weil sie ihr Nein angekündigt haben für eine Abstimmung am kommenden Freitag. Für eine Entscheidung, bei der ein Nein als Antwort nicht vorgesehen ist.

Christa Lörcher sitzt im Sessel in ihrer Wohnung und beobachtet das Geschehen genau. Ihre Augen flattern nervös. Eine Frau mit praktischer Kurzhaarfrisur, 62 Jahre ist sie jetzt. Ein Alter, in dem sie die Dinge leichter nehmen könnte, jetzt wo hier schon der Lebkuchen auf dem Tisch steht. Sie geht schwimmen ins Hallenbad, verdient ihr Geld als Lehrerin in einer Berufsschule und hat nur noch zwei Jahre bis zur Rente. Sie ist draußen. Die Hauptstadt ist weit weg von Villingen-Schwenningen im Schwarzwald. Die Lokalzeitung berichtet heute von der schönen Puppenbörse in der Stadthalle. Vor dem Fenster hat es zu schneien angefangen, der erste Schnee dieses Winters. Aber Christa Lörcher sitzt im Zimmer und guckt durch den Fernseher nach Berlin.

Der Kanzler warnt, er werde zurücktreten, wenn die Gesetze am Freitag nicht durchgehen. So wie er damals auch gesagt hat, er werde zurücktreten, falls es nicht läuft, wie er will. Sie liest in den Zeitungen, dass sich Politiker derselben Partei als „Feiglinge“, als „kleinkariert“, als „Krebsgeschwür“ beschimpfen. Sie hört im Radio, wie der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering erklärt, die Reform dürfe nicht verwässert werden, es werde Gespräche geben. Es klingt wie eine Drohung.

Und natürlich denkt Christa Lörcher da an den 16. November 2001. Die Abstimmung im Bundestag über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Als sie Nein gesagt hat zum Militäreinsatz deutscher Soldaten. Weil sie eine Pazifistin ist. Selbstverständlich denkt sie an ihren Tag. Als sie allein gegen den Kanzler gestimmt hat. Als Einzige ihrer Partei. An einem Freitag im November, als eine einfache Abgeordnete aus Villingen-Schwenningen fast die rot-grüne Regierung zu Fall gebracht hätte.

Draußen fällt Schnee auf Fachwerkbehaglichkeit. Die Schulstunde für den nächsten Tag muss noch vorbereitet werden, der Unterricht für eine Klasse Nägel feilender Mädchen, die kein Interesse haben an Mathematik. Aber Christa Lörcher sitzt in ihrem Wohnzimmer und denkt sich nach Berlin. Sie kann sich vorstellen, was die sechs Abgeordneten jetzt durchmachen. Sie findet: „Es müsste möglich sein, mit Parteikollegen, die anderer Meinung sind, fair umzugehen.“ Sie weiß noch genau, wie es bei ihr gewesen ist.

Wie sie montags einer Schulklasse aus Donaueschingen erklärt hat, dass Abgeordnete nach Artikel 38 des Grundgesetzes gemäß ihrem Gewissen entscheiden dürfen. Wie sie abends schon zum Bundeskanzler zitiert wurde. Wie er jede Kritik als Misstrauen gegen seine Person abkanzelte. Sie erinnert sich an die Konferenzen, die Sitzungen, die Telefonate, die Überredungsversuche. An die Landesgruppe, die fordert, dass sie ihr Mandat abgeben soll, wenn sie nicht nachgebe. Wie alle Maßstäbe plötzlich auf dem Kopf stehen, wie Kollegen ihr vorwerfen, ihr Verhalten sei verantwortungslos, unsolidarisch, egoistisch. Sie denkt an Briefe, in denen stand: „Oje, Christa, was machst du!“ An das ganze Geschmeichel und Geschimpfe. Wie sie immer wieder geantwortet hat: „In einer demokratischen Partei müssen andere Meinungen erlaubt sein.“ Am Tag vor der Entscheidung tritt Christa Lörcher aus der SPD-Fraktion aus.

Die Abstimmung am Freitag, dem 16. November 2001, um 12.30 Uhr ergibt 336 Jastimmen, 326 Neinstimmen. Vier von den Grünen haben mit Nein gestimmt. Auf die rote Stimmkarte von Christa Lörcher hat jemand mit Kugelschreiber „fraktionslos“ geschrieben. Nach einem kurzen Augenblick, in dem es sehr ruhig ist, steht Christa Lörcher von ihrem Stuhl auf. Sie läuft den langen Weg von ihrem Platz durch den Plenarsaal vor zum Bundeskanzler. Sie gibt ihm die Hand und sagt: „Ich freue mich, dass ihr weiter regieren könnt.“ Eine kurze Umarmung. Gerhard Schröder schweigt.

Christa Lörcher sitzt im Sessel und sagt: „Es war eine anstrengende Woche.“ Sie ist eine wohlerzogene Person. Vielleicht hat sie auch eine besonders dicke Haut. Sie sagt nicht mehr. Kein Wort über die Grausamkeiten des politischen Geschäfts, über Verletzungen, über falsche Kollegen. Sie ist jetzt draußen. Sie will niemanden beschuldigen. Nur einmal erwähnt sie nebenbei, dass sie sehr abgenommen habe damals. Sie sagt es leise und beiläufig, wie etwas, für das sie sich schämt.

Es muss erst ihr Mann ins Zimmer laufen und erzählen, ein pensionierter Professor im karierten Jackett. Er erzählt, wie er sich in den Zug gesetzt hat und hingefahren ist zu ihr nach Berlin. Er redet von langen Spaziergängen und Gesprächen tief in der Nacht. Er sagt, dass seine Frau schon eine Stunde nachdem sie erklärt hatte, ihr Mandat abgeben zu wollen, vom Fraktionscomputer abgehängt war. Dass „da gelogen wurde“ und es „ein wahnsinniger psychischer Druck für sie“ war. Dass eine Kollegin gedroht hat: „Du wirst umziehen müssen!“ Dass die Landesgruppe Baden-Württemberg am 16. November sofort ihren Namen von allen Listen gestrichen hat.

Christa Lörcher ruckelt unruhig auf ihrem Sessel. Wahrscheinlich haben sie diese Unterhaltung schon oft geführt. Sie fällt ihm ins Wort: „Manche Kollegen waren hinterher sehr nett.“ Sie sagt „manche“. Sie setzt sich ein Lächeln ins Gesicht. Ein Lächeln von erdrückender Freundlichkeit. Das ablenken soll, so wie es strahlt.

Wie hat sie es ausgehalten? Christa Lörcher mag diese Frage, sie hat darauf gewartet. Weil sie da von den guten Menschen reden kann, das macht sie gern. Als sie am Tag der Abstimmung mit dem Zug um Mitternacht in Villingen ankam, stand eine Gruppe von etwa 50 Leuten am Bahnhof. Ein Aktivist der örtlichen Friedensbewegung trug einen roten Teppich unterm Arm, andere hatten rote Nelken und Transparente dabei. „Und am nächsten Tag hab ich dann ganz normal meine Arbeit gemacht“, erzählt sie. Alltag im Wahlkreis. Um 10 Uhr morgens Jubiläum des Musikvereins Donaueschingen, nachmittags Feier im Seniorenzentrum, abends Besuch beim Verbandsjugendblasorchester. Sie hat Freunde gehabt, und sie hat sich mit Arbeit zugeschüttet.

Bei der Abstimmung hat jemand mit Kugelschreiber auf ihre rote Stimmkarte „fraktionslos“ geschrieben

Menschen aus Villingen-Schwenningen, die Christa Lörcher schon lange kennen, sagen, dass es vor allem diese Verbundenheit zum Wahlkreis gewesen ist, warum die Leute in der Region damals zu ihr gehalten haben, selbst manche von der CDU. Weil sie auch als Bundestagsabgeordnete in Berlin nicht vergessen hatte, am Wochenende zum Sommerfest des Sportvereins zu kommen. Weil sie immer noch mit dem Rad über die Dörfer gefahren ist und mit den Hausfrauen und Bauern und Feuerwehrleuten geredet hat hier. Als der SPD-Landesverband in Stuttgart gefordert hat, dass sie nach über 30 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei austritt, haben die Ortsvereine Mönchweiler und Königsfeld mit bösen Briefen geantwortet. Und so ist es gekommen, dass Christa Lörcher in der Gegend um Villingen-Schwennigen im tiefschwarzen Schwarzwald irgendwie zu einer Mutter Courage geworden ist, zu einer Art Ikone der Demokratie. Die Menschen lachen und winken, wenn sie sie sehen. Sogar in einem Schulbuch hat man sie mit ihrem Nein vom 16. November 2001 verewigt.

Natürlich geht so ein Ruhm schleichend wieder verloren. Die Leute vergessen ihn über all dem Neuen, was täglich passiert. Christa Lörcher hat die Legislaturperiode noch beendet. Auf einem Stuhl ist sie gesessen, irgendwo verloren zwischen den Grünen und dem linken Flügel der SPD.

„Meine erste Rede dort als Fraktionslose war wie im luftleeren Raum. Ich redete für niemanden, gegen niemanden. Ich gehörte nicht dazu“, sagt Lörcher. Die Leitung der Arbeitsgruppe Migration und Integration in der Enquetekommission Demografischer Wandel hatte man ihr abgenommen, ebenso wie den Vorsitz der deutsch-kaukasischen Parlamentariergruppe. Im Terminkalender standen keine Fraktionssitzungen, interne Beratungen und SPD-Abende mehr.

Im Herbst letzten Jahres hat Christa Lörcher die Wohnung und ihr Büro in Berlin gekündigt, ihr 1.-Klasse-Vielfahrer-Bahnticket abgegeben. Das war's. Einmal hat sie Gerhard Schröder noch einen Brief geschrieben und sich für die gute Zusammenarbeit bedankt. Zurück kam ein Standardbrief aus dem Kanzleramt. „Vielen Dank für ihr Interesse an der SPD.“ Das ist das wenige, was bleibt. Christa Lörcher lacht verlegen.

Manchmal holen die Leute in Villingen-Schwenningen ihre Ikone indes auch wieder hervor. Im Frühjahr bei einer Demonstration gegen den Irakkrieg zum Beispiel. Sie stellen Christa Lörcher vor ein Mikrofon, und sie darf reden vor 1.000 begeisterten Demonstranten. Oder eben jetzt. Wenn die Menschen durch die Fußgängerzone laufen und Christa Lörcher sehen, die zufällig in einer roten Windjacke am städtischen Denkmal auf dem Münsterplatz steht. Und ihnen dann einfällt, dass es ja gerade wieder so eine Situation gibt in Berlin. Dann kann es passieren wie jetzt. Dass ein alter Mann wild gestikulierend zu ihr hinstürzt und ruft: „Christa, da müsstest du oben rauf aufs Denkmal!“