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Archiv-Artikel

Die Angst der Stunde

Lob des Vergänglichen: In den Sophiensälen ist die „Anrufung des Herrn“ des Autors Martin Heckmanns zu sehen. Die Inszenierung des Dresdner Tif-Theaters erzählt eine Geschichte des Verschwindens – ein Stück über das Ende

Es herrscht Untergangsstimmung, die Angst vor dem Verschwinden ist die Angst der Stunde. „Bitte nicht abschalten.“ Wann immer die vier Schauspieler auf der Bühne diesen Satz einschieben in ihre Kabarettnummern der Selbstdarstellung, werden vielen Tasten zugleich angeschlagen: Man denkt an die Verschärfung der sozialen Trennlinien und der Aussonderung auf dem Arbeitsmarkt. Man denkt an die Geschichte des kleinen Theaters Tif in Dresden, das dieses Stück zu seiner Schließung bei dem Autor Martin Heckmanns in Auftrag gab. Man denkt an den Tod, das Ende jeder Figur; und nicht zuletzt ist man ein bisschen peinlich berührt von diesen Worten und ihrem Betteln um unsere Aufmerksamkeit.

„Ja, ja, nun beruhige dich doch“, möchte man innerlich den Schauspielern zurufen, die in Frack und Zylinder vor ihrem roten Vorhang dem Bild heimatloser Schausteller recht nahe kommen, „wir sind doch da, wir schauen dir zu.“ Und weil unter der Lockerheit ihres Spiels die Anspannung ständig zu spüren ist und eine Spur von Panik unter den coolen Gesten vibriert, tun sie uns anfangs etwas leid.

Doch beim Mitgefühl und einer Geschichte vom Verschwinden bleibt es nicht. Die vier Schauspieler Antonia Holfelder, Verena Unbehauen, Ulrich Cyran und Jaron Löwenberg, die ihre realen Namen auch auf der Bühne tragen, entlassen uns immer wieder aus emotionaler Bindung und Identifikation. Es sind übrigens keine Mitglieder eines abgewickelten Ensembles, sondern frei für diese Produktion engagierte Spieler. Die Inszenierung des jungen Regisseurs Patrick Wengenroth, die nach der Schließung des Tif im Juni jetzt in den Sophiensälen zu sehen ist, klammert nicht an der konkreten Situation. Vor allem aber hebt der Text Martin Heckmanns’ ab. Sein Stück „Die Anrufung des Herrn“ ist eine sprachphilosophische Veranstaltung, die Vorstellungen vom Ende dreht und wendet.

Die Sprache sieht sich in Heckmanns’ Texten selbst bei der Arbeit zu. Und ebenso beobachten die Schauspieler, mit denen der Autor auf den Proben sein Stück weiterentwickelt hat, die Mittel ihrer Darstellung – und wie sich Wort für Wort die Bedeutung eines Satzes auffaltet und verändert. Auf dem Papier, als Schriftbild, sehen die Monologe und Szene wie schmale Textsäulen aus, kurze Zeilen untereinander geschrieben. Nur selten gerät die Sprache in Fluss.

Erstaunlicherweise eröffnet dieser stockende Duktus auf der Bühne ein Feld von Möglichkeiten. Als ob die Schauspieler nach zwei, drei Worten jeweils an einer neuen Kreuzung angekommen wären und das nächste Wort den Sinn des bis dahin Gesagten wieder verschiebt. „Ich bin ein großer Anhänger der Feststellung“, sagt Antonia. Und wiederholt: „Ich bin ein großer Anhänger der Feststellung, dass alles vergeht. Wenn alles vergeht, vergeht die Feststellung, dass alles vergeht. Ich liebe es.“

Am Ende ist das Ende von einer beängstigenden Vorstellung zu einer notwendigen Kategorie von Entwicklung geworden und Vergänglichkeit zur Voraussetzung, Veränderung überhaupt möglich zu machen und wahrnehmen zu können. Die einzelnen Szenen, die Wengenroth mit einer großen Lust am Kabarettistischen, an Slapstick, gesungenen Trash-Imitationen und Rollenentgleisungen inszeniert hat, brechen zwar immer wieder ab, lassen die Aufführung etwas zur Nummernrevue geraten.

In der Ermunterung zum Weiterspinnen von Gedanken und Paradoxien kommt das Stück dafür Szene für Szene voran. Als Zuschauer ist man oft darüber irritiert, wie man eigentlich auf das Stück schaut und beginnt, die eigene Haltung zu beobachten – infiziert von der Lust am Widerspruch, alles einmal Festgestellte gleich wieder in Frage zu stellen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Bis 19. 9. in den Sophiensälen, 20 Uhr