: Professor erforscht den Ritzendreck
Der wird nämlich unterschätzt und ist wichtig für das Ökosystem der Stadt, haben Ökologen an der TU herausgefunden: Fugen im Pflaster bieten Lebensraum für Mikroorganismen. Daher sollte der Boden auf keinen Fall vollständig zubetoniert werden
von SEBASTIAN HEISER
Der Ritzendreck in den Fugen von Berlins Straßen und Gehwegen hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Ökosystem der Stadt. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher um Professor Gerd Wessolek am Institut für Ökologie an der TU Berlin. Die Fugen filtern Wasser und ermöglichen Leben im Boden. Die Fugen speichern Wasser, das bei Hitze verdunstet und die Stadt dann abkühlt.
Woraus besteht der Ritzendreck? Irgendwann legen Bauarbeiter das Pflaster und kehren dabei ganz normalen Sand in die Fugen. Später sammeln sich dort Staub und die Abfallprodukte des Verkehrs, also Dieselruß, Gummikörnchen von den Reifen, Teerpartikel von den Straßen sowie Öl- und Benzinflecken von parkenden Autos. Fußgänger und der Wind lagern das Gemisch ständig wieder um. Diese Ritzenstoffe sind alle organisch, haben also einen natürlichen Ursprung. Organische Substanz speichert Wasser und Nährstoffe und hält Schadstoffe zurück, die also nicht mit dem Regenwasser in tiefere Regionen kommen. Die im Boden lebenden Organismen finden im Ritzendreck Futter und einen Lebensraum.
Besonders wichtig ist dabei der Flüssigkeitsaustausch. Wasser verdampft aus dem Boden oder regnet herein und versickert. Kohlendioxid kann aus der Erde entweichen; der für Wurzeln und Kleinstlebewesen überlebenswichtige Sauerstoff gelangt in den Boden. Der Boden dürfe daher nicht vollständig zubetoniert werden, fordert Thomas Nehls. Er forscht an der TU zu den Themen Standortkunde und Bodenschutz und warnt vor einer völlig versiegelten Stadt. Wo nur noch Beton liegt, fließt der Regen über die Abwasserkanäle zu schnell in die Flüsse und kann dort zu Hochwasser führen. Wo Pflanzen als Flüssigkeitsspeicher fehlen, verdunstet auch weniger Wasser, das Klima in der Stadt wird schwüler und um zwei bis drei Grad wärmer als im Umland. Richtig angelegte Fugen können diese negativen Folgen abmildern, fand Nehls heraus.
Ist es also ökologisch sinnvoll, wenn das ohnehin finanzschwache Land die Risse im Asphalt nicht wieder flickt? Die Sicherheit im Straßenverkehr sei natürlich wichtiger, sagt Nehls: „Ein viel größeres Problem sind die Spießer, die sich vor ihr Haus setzen und mit dem Messer die Fugen auskraten oder gar mit dem Bunsenbrenner vorgehen. Das mag zwar sauberer aussehen, zerstört aber das Leben in den Fugen.“ Und in den Ritzen steckt viel Leben: Bakterien, Pilze, Algen und Einzeller sind dort aktiver als in den anderen Böden. Die Lebewesen essen Pflanzenreste auf und schaffen damit Humus für die Pflanzen.
Die Bedeutung der Ritzen für den Wasseraustausch ist auch der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bewusst. Auf den Parkplätzen vor dem Olympiastadion liegen zum Beispiel Steine mit einem großen Loch in der Mitte, aus dem der Rasen sprießt. Der für den Straßenbau zuständige Projektleiter Detlef Berlitz räumt aber ein: „Vor der Oper können wir das nicht machen, dann hätten die Damen mit ihren Stöckelschuhen Probleme. Touristisch wichtige Orte wie der Pariser Platz sollen ebenfalls sauber aussehen, da passt Wildwuchs nicht hin.“ Aber ansonsten verbaue die Stadt, wo immer es möglich ist, durchlässigen Belag, betont Berlitz.
Das hat auch historische Gründe. Andere Städte nehmen Asphalt für ihre Wege, der ist am billigsten. In Berlin hat das keine Tradition. Auf den Gehwegen der Hauptstadt liegen Steine, Platten und Pflaster. Zum Beispiel die zwei mal einen Meter großen Platten, in Charlottenburg aus Granit, in Ostberlin aus Beton. Oder die fünf mal fünf Zentimeter großen Pflastersteine, die am Ersten Mai auch als Wurfgeschosse dienen. Oder die zehn mal zwanzig Zentimeter großen Betonverbundsteine zwischen den Großplatten und der Straße. Überall Ritzen, Spalten und Fugen für Berlins kleinste Mitbürger, die Mikroorganismen.