Das Regelwerk der Demütigung

„Zu keiner Zeit wird der Häftling mit anderen Zellen seines Blocks kommunizieren“„Zu keiner Zeit ist es dem Häftling erlaubt, zu schreien oder zu toben“„Der Häftling wird niemanden belästigen, behelligen oder verletzen“„Die Sicherheitskräfte behalten sich das Recht vor, die Regeln zu ändern“

VON DAVID ROSE

„Die Kriegsgefangenen sind jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln … Die Kriegsgefangenen müssen ferner jederzeit geschützt werden, namentlich auch vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, Beleidigungen und der öffentlichen Neugier … Die Unterkunftsbedingungen der Kriegsgefangenen sollen ebenso günstig sein wie diejenigen der im gleichen Gebiete untergebrachten Truppen des Gewahrsamsstaates … Keinesfalls dürfen Disziplinarstrafen unmenschlich, brutal oder für die Gesundheit … gefährlich sein.“ Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen. Genf, 12. August 1949

Auf meinem Rundgang durch das Gefangenenlager von Guantánamo (Camp Delta) konnte ich die Inhaftierten nur flüchtig wahrnehmen: Schatten, die man durch die Gassen aus Nato-Draht führte, immer verborgen hinter den allgegenwärtigen Planen. Captain Gregg Langevin hatte mir gesagt: „Im Lager scheint Disziplin zu herrschen; keiner hämmert gegen die Wände und schreit, wie es in den Zivilgefängnissen der Fall ist. Es ist ganz still. Vielleicht liegt’s an der Hitze.“

Doch als ich durch das Haupttor hinausging, bekam die Fassade eine Sekunde lang Risse. Aus irgendeinem unsichtbaren Winkel gellte es: „Lügner! Lügner! Nazilügner!“ Ich war in Begleitung zweier Pressekollegen und des Vollzugsleiters Anthony Mendez. „Beunruhigt es Sie, wenn sie Sie einen Nazi nennen?“, fragte ich. Mendez gluckste. „Wie, die Häftlinge oder meine Leute?“ Man hatte alles nur Mögliche getan, um den Eindruck glatter, reibungsloser Effizienz zu erzeugen. Aber Gitmo [US-Militärslang für Guantánamo, Anm. d. Red.] hat, wie ich in der Folge erfuhr, eine ganz andere Seite.

Im Innern von Camp Delta, so erzählte der ehemalige Häftling Shafiq Rasul, „gibt es nur eine einzige Regel, die zählt. Man muss gehorchen – egal was die Leute von der US-Regierung einem befehlen.“ Der Preis für Ungehorsam, so Rasul, war hoch. Aus einem der internen Gitmo-Dokumente mit dem Titel „Verhaltensnormen für Häftlinge“ geht hervor, dass er die Wahrheit sagt.

„Der folgende Regelkatalog enthält Verhaltensnormen, die der Häftling jederzeit befolgen wird“, heißt es zu Anfang. „Nichtbefolgung der folgenden Normen führt zu strengster Bestrafung durch die US-Sicherheitskräfte.“ Die ersten beiden Verhaltensregeln räumen den Häftlingen dreißig Minuten für die Einnahme ihrer Mahlzeiten und gerade mal fünf Minuten fürs Duschen ein; nur „den Amputierten stehen 10 bis 15 Minuten für die Dusche zu“. Dann nehmen die Vorschriften einen eher drohenden Ton an.

3. Der Häftling wird nicht unhöflich gegenüber den Angehörigen der US-Sicherheitskräfte oder anderen Häftlingen sein.

4. Der Häftling wird den Anweisungen der US-Sicherheitskräfte jederzeit Folge leisten.

5. Die Häftlingszelle kann und wird jederzeit durchsucht werden.

6. Der Häftling wird niemanden belästigen, behelligen oder verletzen oder auf andere Weise die Sicherheit und Arbeit der Haftanstalt stören.

7. Der Häftling wird weder die US-Sicherheitskräfte noch andere Häftlinge berühren, anspucken oder mit einem Gegenstand bewerfen. Werden in der Zelle oder in ihrer Nähe nicht genehmigte Objekte gefunden, wird der Häftling die US-Sicherheitskräfte informieren, was dann keine Disziplinarmaßnahmen zur Folge hat.

8. Der Häftling wird seine Geräusche auf das Niveau einer leisen Unterhaltung beschränken. Zu keiner Zeit ist dem Häftling erlaubt, zu schreien oder zu toben. Zu keiner Zeit wird der Häftling mit anderen Zellen des Blocks kommunizieren.

9. Der Häftling wird die Dinge des persönlichen Bedarfs in folgender Reihenfolge vor seiner Zelle aufstellen:a. Seifeb. Duschsandalenc. Zahnpastad. Zahnbürstee. kleines Handtuchf. Wasserflasche.

In den nächsten drei Anstaltsregeln wird dem Häftling erstens gestattet, ein Handtuch vor das Fenster zu hängen, um die Sonne abzuhalten, zweitens versprochen, dass er sich zweimal pro Woche körperlich bewegen kann, und drittens erlaubt, den Koran an die Metallwände der Zelle zu hängen. Die unheilvollste Regel ist wohl die Letzte:

13. Die US-Sicherheitskräfte behalten sich das Recht vor, die oben stehenden Regeln, falls erforderlich, zu ändern oder vorübergehend auszusetzen.

Die Presseoffiziere von Gitmo weigern sich, Auskunft darüber zu geben, wie die in der Präambel des Dokuments angedrohte „strengste Bestrafung“ im Einzelnen aussieht. „Wir geben keine Auskünfte darüber, wie die Joint Task Force ihren Auftrag im Einzelnen ausführt“, teilte mir Lieutenant Colonel Leon Sumpter [einer der Pressesprecher des Gefangenenlagers, Anm. d. Red.] per E-Mail mit. Deshalb sind wir auf die Berichte der freigelassenen Häftlinge angewiesen, zu deren auffälligsten Merkmalen es gehört, dass sie sich wechselseitig bestätigen.

Nach diesen Aussagen kam es zwar vor, dass Gefangene, denen man einen Verstoß gegen die Regeln von Camp Delta zur Last legte, in eine Isolationszelle gesteckt wurden. Häufiger indessen wurden sie von Gitmos Strafkommando – der so genannten ERF oder „Extreme Reaction Force“ – überfallen. (…) Nach Shafiq Rasuls Worten waren diese Überfälle den Häftlingen schließlich so vertraut, dass sie ein neues Verb dafür kreierten: „geERFt“ werden. Eine der eindringlichsten Schilderungen gab mir der ehemalige Häftling Tarek Dergoul:

„An diesem Tag“, sagte er, „hatten sie mich und meine Zelle schon zweimal durchsucht, meine Sachen durchgesehen, meinen Koran angefasst, meinen Körper abgetastet, um die Geschlechtsteile herum. Und jetzt wollten sie’s noch mal machen, nur um mich zu provozieren, aber ich sagte nein, denn wenn man sich allem und jedem beugt, wird man zum Zombie. Ich hörte, wie ein Wärter in sein Walkie-Talkie sagte: ‚ERF, ERF, ERF‘, und wusste schon, was jetzt kommen würde. Was kam, waren die fünf Feiglinge, wie ich sie nannte; fünf Kerle, ausgerüstet wie Polizisten bei der Aufstandsbekämpfung, die in die Zelle reinrannten. Sie sprühten mir Pfefferspray ins Gesicht, und ich fing an, mich zu übergeben; ich muss ungefähr fünf Becher voll gekotzt haben. Dann drückten sie mich zu Boden und fielen über mich her, sie bohrten mir die Finger in die Augen, sie zwangen meinen Kopf ins Klobecken und betätigten die Wasserspülung. Sie fesselten mich wie ein wildes Tier, knieten sich auf mich und bearbeiteten mich mit Fußtritten und Fäusten. Zum Schluss schleiften sie mich in Ketten aus der Zelle in den Gefängnishof und rasierten mir Bart, Kopfhaar und Augenbrauen ab.“

Dergoul sagte, er sei vier- oder fünfmal „geERFt“ worden, immer unter dem Vorwand, irgendeinen geringfügigen Verstoß begangen zu haben. Auch seine Mitgefangenen Asif Iqbal, Ruhal Ahmed und Rasul schilderten ERF-Überfälle. So wie Rasul es erlebt hatte, hieß ERFen, „du wirst von einem Soldaten mit einem Polizeischild zu Boden geschleudert, mit Gewalt niedergedrückt und von fünf bewaffneten Männern zusammengeschlagen“.

Nicht lange nach dem Umzug aus Camp X-Ray [dem inzwischen aufgelösten Teil des Lagers, in dem Häftlinge in Käfige gesperrt waren, Anm. d. Red.] ins Camp Delta, so Rasul, erlebte er mit, wie Jummah al-Dousari aus Bahrain, ein sichtlich geistesgestörter Insasse, der fast den ganzen Tag und die Nacht damit verbrachte, „seltsame Tiergeräusche zu machen“, besonders brutal zusammengeschlagen wurde.

Im Mai 2004 nannte er in einem auch von Iqbal und Ahmed unterschriebenen Brief an den Streitkräfteausschuss des Senats weitere Einzelheiten: „[Er] lag auf dem Boden seines Käfigs gleich neben uns, als eine Gruppe von acht oder neun Wärtern aus der so genannten ERF in seinen Käfig kam. Wir sahen, wie sie in übelster Manier über ihn herfielen. Sie trampelten ihm auf den Hals und traten ihn in den Bauch, obwohl man ihm dort bei einer Operation Metallstäbe eingesetzt hat, dann zogen sie seinen Kopf hoch und schmetterten ihn mit dem Gesicht auf den Boden. Einer Wärterin wurde befohlen, in die Zelle zu gehen und ihn zu treten und zu schlagen – was sie auch tat, und zwar in den Bauch.“

Jamal al-Harith, ein fünfter freigelassener Brite, berichtete der Los Angeles Times von „dutzenden“ solcher Aktionen der ERF-Schläger, die er entweder am eigenen Leibe oder bei anderen erlebte: „Ich habe mit den Leuten gesprochen, denen das passiert ist. Ich habe die Folgen gesehen. Ich habe die Leute gesehen, nachdem man sie zusammengeschlagen hatte – die geschwollenen Gesichter und wie sie sich zurückschleppten oder zurückgeschleift wurden. Ich habe die Folgen gesehen.“

Ungeachtet der Nachrichten über die Misshandlung von Gefangenen in Abu Ghraib hielt das Pentagon noch Ende Mai 2004 daran fest, die Behauptungen ehemaliger Häftlinge, sie seien zusammengeschlagen worden, seien „unglaubhaft“ und machten daher keinerlei weiter gehende Untersuchung erforderlich. „Die Behauptungen dieser Personen sind unwahr“, sagte ein Sprecher.

Dann, Anfang Juni, wurde bekannt, dass der Stabsgefreite Sean Baker, der als Militärpolizist und Wärter in Gitmo Dienst getan hatte, aus der US-Armee entlassen wurde, weil er sich Verletzungen zugezogen hatte, als er bei einer nur allzu realistischen ERF-Übung die Rolle eines Gefangenen übernommen hatte. Im Januar 2003 bekam er den Befehl, einen orangegelben Häftlingsoverall über seine Uniform zu ziehen und in einer Zelle unter ein Bett zu kriechen, damit die ERF – der man gesagt hatte, er sei ein echter Häftling, der bereits einen Sergeant angegriffen hätte – ihre Übung machen konnte.

Einem lokalen Fernsehsender in Kentucky berichtete Baker: „Sie packten mich an Armen und Beinen, drehten mich herum, und unglücklicherweise konnte sich einer der Typen von hinten auf meinen Rücken setzen und drückte mich zu Boden, als ich mit dem Gesicht nach unten da lag. Dann umfasste er – derselbe Mann – meinen Hals und begann, mich zu würgen und meinen Kopf gegen den Stahlfußboden zu drücken. Nach mehreren Sekunden – 20 bis 30 Sekunden, mir schien es eine Ewigkeit, weil ich nicht atmen konnte – geriet ich in Panik und brachte das Codewort heraus, das ich nennen sollte, um die Übung zu unterbrechen: ‚red‘ … Der Kerl schlug meinen Kopf gegen den Boden und würgte mich weiter. Irgendwie bekam ich dann genug Luft. Ich murmelte: ‚Ich bin US-Soldat. Ich bin US-Soldat.‘ “

Nachdem er in Gitmo erste Hilfe erhalten hatte, wurde Baker in ein Krankenhaus in Portsmouth (Virginia) geflogen und nach einem vierzehntägigen Klinikaufenthalt zur Erholung nach Hause geschickt. Leider bekam er dort Anfälle und musste zur Behandlung eines Schädelhirntraumas ins Washingtoner Walter-Reed-Militärkrankenhaus gebracht werden, wo er 48 Tage blieb. Man wies ihm zunächst einen leichteren Dienst zu und entließ ihn schließlich, im April 2004, aus der Armee.

Anfangs hatte Major Laurie Arellano vom Southern Command in Miami Reportern mitgeteilt, Bakers Krankheit habe nichts mit den Verletzungen zu tun, die er sich bei der ERF-Übung zugezogen hatte. Doch die medizinische Untersuchungskommission der Armee stellte in einem Dokument vom 29. September 2003 fest: „Das Schädelhirntrauma wurde dadurch verursacht, dass der Soldat die Rolle eines nicht kooperationswilligen Häftlings spielen musste, der während einer Übung in Guantánamo Bay aus der Gefängniszelle geschleift wurde.“

Den Reportern und seinem Anwalt sagte Baker, die ganze Übung sei auf Video aufgenommen worden; aber die Videokassette war, wie mitgeteilt wurde, aus unerfindlichen Gründen verschwunden. Mittlerweile haben meine eigenen Nachforschungen ergeben, dass jede einzelne ERF-Aktion routinemäßig gefilmt wird. „Hinter dem Kommando“, sagte der Exhäftling Tarek Dergoul, „stand immer einer, der das ganze Geschehen filmte.“ Ähnlich äußerten sich auch Shafiq Rasul und Jamal al-Harith.

Als ich dem Gitmo-Sprecher Sumpter diese Aussagen vorlegte, bestätigte er sie: Alle ERF-Aktionen, so Sumpter, würden gefilmt, damit sie von höheren Offizieren „überprüft“ werden könnten – um festzustellen, ob die Kommandos unverhältnismäßige Gewaltmittel einsetzten. Sämtliche Videokassetten lägen in einem Archiv in Guantánamo. Er weigerte sich zu sagen, wie viele ERF-Einsätze es gegeben habe, und gab keinerlei Auskunft über Ausbildung oder Rekrutierungsbedingungen. Alle entsprechenden Fragen stießen auf die schon bekannte Antwort: „Wir geben keine Auskünfte darüber, wie die Joint Task Force ihren Auftrag im Einzelnen ausführt.“

Während ich dies niederschrieb, forderte der demokratische Senator Patrick Leahy, Vorsitzender im Rechtsausschuss des Senats, Donald Rumsfeld per Brief zur Herausgabe der ERF-Videos auf. „Die parlamentarische Kontrolle dieser Regierung“, heißt es in seinem Schreiben, „ist auf vielen Gebieten nachlässig gewesen, auch was die Inhaftierung von Gefangenen im Irak, in Afghanistan und in Guantánamo betrifft. Es ist höchste Zeit, das zu ändern. Sollten Fotos, Videokassetten oder andere Beweismittel existieren, mit deren Hilfe festgestellt werden kann, ob es in Guantánamo Bay zur Misshandlung von Gefangenen gekommen ist, dann sollten sie unverzüglich dem Kongress zur Verfügung gestellt werden.“

„Nach dem, was in Abu Ghraib passiert ist“, sagte Tarek Dergoul zu mir, „hätte ich an Stelle der Amerikaner die Videos vernichtet. Man soll sie zeigen. Dann wird die Welt wissen, dass ich die Wahrheit sage.“ Kurz vor seiner Freilassung im März 2003 sei eine neue Strafe eingeführt worden: die Überstellung in den „Romeo-Block“, wo die Gefangenen mehrere Tage hintereinander, meistens halb nackt, in Isolationshaft gehalten wurden.

Eine ausführlichere Schilderung fand sich in dem Brief, den Iqbal, Rasul und Ahmed an den Senatsausschuss schickten: „[Im] so genannten Romeo-Block … wurden sie nackt ausgezogen. Nach drei Tagen erhielten sie Unterwäsche. Nach weiteren drei Tagen erhielten sie ein Kleidungsoberteil und nach noch einmal drei Tagen Hosen. Manche bekamen überhaupt nur Unterwäsche. Man sagte ihnen, das sei die Strafe für ihr ‚Fehlverhalten‘.“ Was aber galt als „Fehlverhalten“? Nach Rasuls Worten konnte es so etwas Banales sein wie die Tatsache, dass man zwei Becher in der Zelle hatte – statt des einen, der erlaubt war.

Unnötig zu sagen, dass kein einziger Häftling je zu einem Regelverstoß gehört wurde, wie es in einer normalen Vollzugsanstalt vorgeschrieben ist. (…) Hinter seiner potemkinschen Fassade scheint Gitmo ein fast perfektes Beispiel für das zu sein, was Erving Goffman eine „totale Institution“ nennt, die das Leben der Insassen in jeder Einzelheit kontrolliert. Die langfristigen Folgen der an einem solchen Ort verbrachten Haftzeit sind, Goffmans Befunden zufolge, immer einschneidend, und die Reintegration eines ehemaligen Insassen in die Gesellschaft ist schwierig oder gar unmöglich. In Guantánamo, so viel scheint heute sonnenklar, besteht die Standardsanktion, mit der seine extrem strengen, aber stets anpassungsfähigen Regeln aufrecht erhalten werden, in körperlicher Gewalt.

In welcher Weise sich dies, wie Bush und Rumsfeld beteuern, mit dem „Geist“ oder den „Grundsätzen“ der dritten Genfer Konvention vertragen soll, ist kaum einsichtig. Die Normen und Regeln für die Haft in Guantánamo verstoßen nicht nur gegen geringfügige technische Bestimmungen der Konvention, sondern gegen ihre absoluten Grundprinzipien. Würde man ein Gefangenenlager nach dem Genfer Modell errichten und betreiben, so sähe es in allen entscheidenden Punkten anders aus als Camp Delta.

Die Häftlinge wären zum Beispiel imstande, sich innerhalb eines Sicherheitsgürtels frei zu bewegen, und statt dem alles umfassenden rigorosen Zugriff einer totalen Institution zu unterstehen, könnten sie ihr Leben weitgehend selbst organisieren. In Artikel 21 der Konvention heißt es: „Der Gewahrsamsstaat kann die Kriegsgefangenen internieren. Er kann ihnen die Verpflichtung auferlegen, sich nicht über eine gewisse Grenze vom Lager, in dem sie interniert sind, zu entfernen oder, wenn das Lager eingezäunt ist, nicht über diese Umzäunung hinauszugehen.“ Ihre Unterbringung in Zellen oder Käfigen – die Konvention nennt das „Einschließung“ – ist „nur als unerlässliche Maßnahme zum Schutz ihrer Gesundheit zulässig, und zwar nur für so lange, als die Umstände, die diese Maßnahme nötig machten, andauern“.

Und Artikel 38 schreibt vor: „Der Gewahrsamsstaat soll unter Achtung der persönlichen Vorliebe der einzelnen Gefangenen die geistige, erzieherische, sportliche und die der Erholung geltende Tätigkeit der Kriegsgefangenen fördern; er soll die nötigen Maßnahmen ergreifen, um deren Ausübung zu gewährleisten, indem er ihnen passende Räume sowie die nötige Ausrüstung zur Verfügung stellt. Den Kriegsgefangenen soll die Möglichkeit zu körperlichen Übungen … und zum Aufenthalt im Freien geboten werden. Zu diesem Zwecke sind in allen Lagern ausreichend offene Plätze zur Verfügung zu stellen.“

Es gibt noch viele andere Unterschiede zwischen dem Leben eines Kriegsgefangenenlagers, wie es die Konvention vorsieht, und Guantánamo. (…) Doch die vielleicht größte Abweichung vom „Geist“ der Genfer Konvention betrifft den Regelkodex und die Strafen. Im Genfer Artikel 96 heißt es: „Bevor eine Disziplinarstrafe verhängt wird, soll der angeklagte Kriegsgefangene genau über die Tatsachen ins Bild gesetzt werden, die ihm vorgeworfen werden. Er soll sein Verhalten erklären und sich verteidigen können. Er ist berechtigt, Zeugen einvernehmen zu lassen und, falls notwendig, die Hilfe eines befähigten Dolmetschers zu beanspruchen.“ (…)

Dies ist nur eine Kostprobe jener Schutzbestimmungen, die der Justiziar des Weißen Hauses Alberto Gonzales „veraltet“ nennt. (…) Die Schöpfer des Gitmo-Systems haben […] eine Welt etabliert, in der nichts mehr feststeht und Worte wie auch Verfassungen das Gegenteil dessen bedeuten können, was sie eigentlich bedeuten. „Wir werden uns an die Bestimmungen der Genfer Konvention halten“, bedeutet demgemäß: „Wir werden die Bestimmungen der Genfer Konvention missachten.“ Die Behauptung „Häftlinge werden human behandelt“ lautet übersetzt: „Häftlinge werden inhuman behandelt.“ Den Anspruch des Pentagon, den Häftlingen durch Militärkommissionen einen fairen Prozess machen zu lassen, demontierte der Militäranwalt Charles Swift: „Stellen Sie sich ein mittelalterliches Turnier vor, von Monty Python inszeniert. Die Kommission sitzt auf einem riesigen Schlachtross, bewaffnet mit Schwert und Lanze. Ich versuche, ihnen standzuhalten, auf dem Boden stehend und mit einem Stöckchen fuchtelnd.“

Und doch geschieht dies alles im Namen der Freiheit und Demokratie, für die Werte, die das Gitmo-Motto von General Geoffrey Miller [Kommandant bis zur Versetzung im Sommer 2004 ins Bagdader Gefängnis Abu-Ghraib, Anm. d. Red.] beschwört: „Auf Ehre verpflichtet zur Verteidigung der Freiheit.“