: Sie haben der Kuh ein Denkmal gebaut
Das Unglück des Dorfes Jorwerd begann mit dem Niedergang der Landwirtschaft. Jetzt ist es ein Global Village
In dem westfriesischen Dorf Jorwerd wurde 1999 der „Untergang des Dorfes in Europa“ ausgelotet.
Als wir dort Anfang Januar vorbeischauten, hatte auch noch die letzte Kneipe „Het Wapen van Barderadeel“ dicht gemacht. Es war kalt und diesig, andauernd regnete es. Frierend stiefelten wir ums Dorf. Hier und da konnte man in ein Zimmer kucken, wo jemand am Schreibtisch saß. So bekam die Studie des holländischen Schriftstellers Geert Mak über Jorwerd sinnliche Gewissheit.
Um die Jahrhundertwende wohnten ungefähr 650 Leute im Dorf, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 420, 1995 nur noch 330, wobei die meisten in der Stadt arbeiteten. 1956 schloss das Postamt, 1959 gab der letzte Schuster auf, der Hafen wurde zugeschüttet, die Bäckerei schloss 1970, zwei Jahre später wurde die Buslinie stillgelegt, 1974 gab der letzte Binnenschiffer auf, der Fleischer schloss seinen Laden 1975, der Schmied gab 1986 auf, und 1988 machte der letzte Lebensmittelladen dicht, 1994 wurde die Kirche einer Stiftung für Denkmalschutz übergeben. Dennoch merke man den Jorwerdern ihr langsames Verschwinden nicht an, meint Geert Mak: Wie eh und je feiern sie alljährlich ihr rauschendes Dorffest, die „Merke“… Und „so lebt das Dorf weiter, im Traum des Frommen, im langsamen Tanz der Alten, in einer Leichtigkeit, die es früher nicht gekannt hat“.
Über die Ursachen aber, wie es dazu kam, gehen die Meinungen in Jorwerd auseinander. Für die Bäuerin Lies Wiedijk begann das Unglück damit, dass das Milchgeld, das ihnen jeden Freitag der Molkereifahrer ausgehändigt hatte, plötzlich auf ein Konto überwiesen wurde. Hiermit setzte die schleichende Verwandlung der Produktionsgemeinschaft in eine Konsumgesellschaft im Kleinen ein, wobei die ökonomischen Banden nach und nach durch sportliche und kulturelle ersetzt wurden. Geert Mak meint: „Mit der Landwirtschaft war die Stabilität nicht nur aus der dörflichen Wirtschaft, sondern aus dem gesamten sozialen Leben des Dorfes gewichen.“
Im Mai 1940 setzten auch etliche Jorwerder „Bauern in ihrer Armut all ihre Hoffnungen (noch einmal) auf die neue Ordnung … Minne und seine Mutter traten begeistert den Nationalsozialisten bei, Lammert hatte sich sogar den Schwarzhemden angeschlossen.“ Sietske, Fedde und Pieter versteckten dagegen untergetauchte Juden auf ihren Höfen. Dafür wurden sie nach dem Krieg in Israel geehrt, Lammert wurde zum Tode verurteilt, später jedoch begnadigt.
In den darauf folgenden Wiederaufbaujahren registrierten die Bauern die Brüche immer individueller: Für Sake Castelein war es die erste Melkmaschine, mit der „die Gemütlichkeit auf dem Hof verloren ging“. Für Bonne Hijlkema war es der erste Trecker 1960, und für Cor Wieddijk der erste Liegeboxen-Laufstall für die Kühe. Überhaupt wurde alles mehr und mehr auf Milchwirtschaft ausgerichtet. In Leeuwarden, dem regionalen Viehmarkt, stellte man ein großes Denkmal für eine Kuh auf, die von den Friesen sehr indisch „Unsere Mutter“ – „Us Mem“ – genannt wird.
Nichtsdestotrotz verschwanden die Kühe von der Weide – und wurden bald ganzjährig im Stall gehalten, zudem derart hochgezüchtet, dass kein Tier mehr länger als drei bis vier Jahre seine „Milchleistung“ hielt. Wegen der wachsenden Überproduktion zog die EU-Landwirtschaftspolitik die Notbremse: Es gab Abschlachtprämien für Kühe – und festgelegte Milchquoten. Die kleinen Milchbauern gaben auf – und verkauften ihre Quote. „Früher hatte eine Kuh immer Recht“. Jetzt ist sie ein Produktionsfaktor, so wie auch das Land, für das immer mehr „Naturpläne“ aufgestellt werden. Es wurden sogar Planierraupen eingesetzt, um den fruchtbaren Ackerboden zu entfernen und das Terrain wieder künstlich karg zu machen.
Dabei schien die Stabilität in der Provinz einer „heimlichen Panik“ zu weichen. Früher wurde man ausgelacht, wenn man einer Mode folgte. Heute wird auch auf dem Land „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“. Feriendörfer, Jachthafen, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village.HELMUT HÖGE