: Hildegards Hilfe ist teuer
Der Berliner Senat will das Blindengeld kürzen und dabei 8 Millionen Euro einsparen. Eine kleine Summe mit großer Wirkung. Denn blind sein ist teuer – wenn man nicht nur zu Hause in der Ecke sitzen will. Ein Tag im Leben der blinden Ingrid Steinig
von TIMO BLÖSS
Auf den ersten Blick scheint an Ingrid Steinig nichts ungewöhnlich zu sein. Sie ist auf dem Weg zum Wochenendeinkauf, immer dicht neben ihr eine ältere Frau. Eingespielt und kaum sichtbar, berührt die blinde Ingrid Steinig mit der rechten Hand den linken Ellbogen ihrer Begleiterin Hildegard Kraatz. Hin und wieder schiebt diese sie vorsichtig, aber bestimmend zur Seite. „Hundemist“ oder „abgestellte Fahrräder“, sagt sie dann knapp und erklärend.
In Zukunft wird Ingrid Steinig ihr Haus vielleicht nur noch selten verlassen können, vorausgesetzt, der Senat setzt seine Pläne um, das Blindengeld mit dem Haushalt 2004/2005 drastisch zu kürzen.
Ingrid Steinig ist blind seit ihrer Geburt. Anders als viele der ungefähr 22.000 Blinden und Sehbehinderten in Berlin macht sie einen sicheren und selbstbewussten Eindruck. Trotz ihrer großen Eigenständigkeit ist aber auch sie auf Hilfe angewiesen. Neben den vielen technischen Hilfsmitteln, wie etwa einer speziellen Blindenuhr, von der sie die Uhrzeit am Ziffernblatt abfühlen kann, oder einem „elektronischen Notizbuch“, ist sie vor allem auf die Unterstützung ihrer Haushaltshilfe Hildegard Kraatz angewiesen. Zweimal pro Woche für etwa acht Stunden kommt sie, um beim Einkaufen, Putzen und bei anderen alltäglichen Aufgaben zu helfen. Dabei hat Steinig mit Helferin Hildegard Glück. „Uns verbindet auch Freundschaft“, sagt sie. Deswegen hilft Kraatz für weitaus weniger Geld. Würde sie ihre Begleitung und Haushaltshilfe, wie die meisten Blinden, pro Stunde bezahlen, müsste sie weitaus mehr berappen. 12,50 Euro kostet etwa die zweieinhalbstündige Begleitung und Betreuung durch einen Zivildienstleistenden.
Wie rund 70 Prozent der Blinden und Sehbehinderten sind auch Ingrid und Ehemann Herbert Steinig Rentner. Ingrid Steinig arbeitete über dreißig Jahre als Stenotypisten und Telefonisten an der Technischen Universität. Vor 10 Jahren ging Ingrid Steinig nach einem Schlaganfall in Rente, ihr hochgradig sehbehinderter Mann folgte ihr letztes Jahr. Aus eigenen Erfahrungen weiß sie, dass viele der blinden und sehbehinderten Rentner von einer „kleinen Rente“ leben müssen. Sie hat – anders als ihr Mann – nicht umgeschult. „So reicht für uns die Rente mit dem Blindengeld gerade so, zum Glück“, sagt sie.
Das könnte sich mit den Plänen des Senats ändern. Mit dem Haushaltsentwurf 2004/2005 soll ein neues Pflegegesetz erlassen und das Blindengeld um 20 Prozent von 579 Euro im Monat auf 468 gekürzt werden. Auch die Hilfe für zwei Drittel der hochgradig Sehbehinderten würde dann von 239 auf 117 Euro halbiert.
Acht Millionen Euro Ersparnis erhofft sich der Senat von diesen Kürzungen. In Anbetracht des enormen Haushaltsdefizits wohl eher ein symbolischer Akt – einer, der für die Betroffenen allerdings ein tiefgehender Einschnitt mit großen Folgen sein wird.
Blindengeld gibt es, weil mit seiner Hilfe die für erblindete oder sehbehinderte Menschen entstehenden zusätzlichen finanziellen Belastungen ausgeglichen werden sollen. Notwendige technische Hilfsmittel, wie zum Beispiel eine sprechende Waage oder eine blindenfreundliche Waschmaschine, eine verkehrsgünstig gelegene Wohnung, Taxifahrten oder eben eine Haushaltshilfe sollen Eigenständigkeit, Mobilität und Integration gewährleisten.
Für Ingrid Steinig steht deswegen mit den Kürzungen viel mehr auf dem Spiel, als 116 Euro weniger im Portemonnaie zu haben. Sie blickt den Plänen mit Sorgen entgegen. Spontan ins Restaurant oder in die Kneipe gehen oder „etwas Kulturelles“ machen sei schon jetzt „schwierig“ und mit „hohen Taxikosten“ verbunden. Wie das nach den Kürzungen werden soll, weiß sie nicht.
Vor allem aber „Hildegards Hilfe“ könnte sich Ingrid Steinig dann nur noch selten leisten. Wie wichtig diese ist, zeigt der Einkauf im Supermarkt. Um den Zeitaufwand möglichst gering zu halten, gehen die beiden in den nächstgelegenen Laden. Dieser erinnert an einen Einkaufsladen vom Lande. Anders als in den großen Supermarktketten wird hier der Einkauf nach Hause geliefert, ohne Aufpreis. Für den Lieferservice und die Hilfsbereitschaft der Angestellten muss Ingrid Steinig aber deutlich höhere Preise in Kauf nehmen.
„Schnäppchenjagd“, sagt die 62-jährige Berlinerin, „gibt es für uns Blinde nicht.“ Bei Aldi die Wurst und bei Penny der Saft, das ist zu kompliziert und beansprucht zu viel Zeit. Schon beim Betreten des Ladens werden die beiden von der Kassiererin freundlich begrüßt. „Wenn wir liefern sollen, stellen Sie uns einfach den Wagen hin“, sagt sie. Alles scheint eingespielt und vertraut. Hildegard Kraatz sucht das zusammen, was Ingrid Steinig vom Einkaufszettel in ihrem Kopf diktiert. Laut liest sie Preis und Verfallsdatum vor.
Zu Hause angekommen, hilft die 77-Jährige den Einkauf zu sortieren. Viele Dinge wie etwa Konservendosen – Pfirsiche oder Ravioli? – kann die blinde Hausfrau gar nicht unterscheiden. Auch wenn das Ehepaar Steinig mal ins Theater gehen oder in den Urlaub fahren will, sind sie auf Hildegard Kraatz angewiesen. Das bedeutet für die Steinigs: drei Theaterkarten kaufen und drei Plätze im Reisebus buchen. Schon jetzt reicht das gemeinsame Geld dafür kaum aus. Gehen sie zu einer Feier oder „mal zu einem Empfang“, wie Ingrid Steinig ein wenig stolz erklärt, lässt sie sich bei der Auswahl der Kleidung helfen. Nur wenige Krankenkassen zahlen ihren blinden Versicherten das rund 750 Euro teure Farberkennungsgerät. Außerdem, so Ingrid Steinig etwas verschmitzt, könne man als Blinder ja nicht alle Flecken in der Kleidung erfühlen.
Ende des Jahres ist mit einer Entscheidung des Abgeordnetenhauses von Berlin über die vom Senat angestrebten Kürzungen zu rechnen. Mitte September hat der Senat die Sparpläne abgesegnet, Ende Oktober soll der Gesetzentwurf nun dem Abgeordnetenhaus zur Beratung vorliegen. Ob das Gesetz dann vom Abgeordnetenhaus abgesegnet wird, ist offen. Während die Oppositionsparteien die Blindengeldkürzungen klar ablehnen, haben sich die Fraktionen von PDS und SPD noch nicht eindeutig positioniert.
Der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverband Berlin e.V. (ABSV) macht gegen das Senatsvorhaben mobil. Seit Juli sammelt der ABSV mit Unterstützung anderer Behindertenverbände Unterschriften. Als erste Protestnote übergab der Verbandsvorsitzende Manfred Schmidt dem Berliner Parlamentspräsidenten Walter Momper bereits 27.000 Unterschriften. Bis Ende des Jahres wird weiter gesammelt.
Große Hoffnung setzt Schmidt auf eine Anhörung im Fachausschuss Soziales im Abgeordnetenhaus. Ende Oktober will er dort den Parlamentariern noch einmal ins Gewissen reden. Insbesondere in der PDS-Fraktion glaubt er noch auf offene Ohren zu stoßen. Dort will man sich ausdrücklich erst nach der Anhörung festlegen.
Das Ehepaar Steinig wird, wie es der Blindenverband auf seiner Homepage empfiehlt, auch zur Anhörung kommen. Ingrid Steinig würde den Abgeordneten dann gerne mal die Augen verbinden. „Dann sollen sie mal alleine zu ihrem Auto finden – wenn sie uns das Geld kürzen, dürfte das ja kein Problem sein.“