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Archiv-Artikel

Förster zu Fluthelfern

Das Hochland von Mapou ist wie eine riesige Badewanne. Doch die Natur hat den Abfluss vergessen„Was sollten wir machen? Irgendwo mussten wir was anbauen, um zu leben“, sagt ein Bauer

AUS MAPOU/HAITI HANS-ULRICH DILLMANN

„Hier waren sie wieder am Werk.“ Ludovic Anglade springt aus dem Pick-up und eilt den Hügel hinauf zu einer Baumgruppe. Wie eine Furie muss jemand mit der Machete knapp über dem weichen Waldboden auf den Fichtenstamm eingeschlagen haben. Die Klinge hat tiefe Spuren hinterlassen. Harz tränt aus dem wunden Baum. Stamm für Stamm die gleichen Verletzungen – auf der Größe eines Fußballfeldes.

„Die Bauern der Umgebung beschädigen die Bäume. Wenn sie dann abgestorben sind, dürfen sie sie fällen“, erzählt Anglade. „In ein paar Monaten wirst du hier vielleicht ein Zwiebel- oder Kartoffelfeld finden.“ Anglade ist 48 Jahre alt und Agronom. Er will den Wald in seiner Heimat retten, weil er weiß, dass der Wald den Bauern nützt. Dass er sie ernähren und vor zukünftigen Schlammfluten schützen kann. Darum arbeitet er für den Lutherischen Weltbund, die internationale Vereinigung protestantischer Kirchen, die Entwicklungshelfer in alle Welt entsendet.

Dreieinhalb Stunden hat sich der viersitzige Pritschenwagen über die zum Teil abgerutschte Straße aus der rund 50 Kilometer entfernten haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in die Anhöhen des Massif de la Selle gequält. „Forêt des Pins“ ist eines von drei noch zusammenhängenden Waldschutzgebieten im „Land der Berge“, wie die Ureinwohner Haiti nannten.

Als Christoph Kolumbus die Karibikinsel zum ersten Mal betrat, waren noch rund 85 Prozent des Bodens mit Bäumen bedeckt. Die Fläche ist auf inzwischen ein Prozent zusammengeschrumpft. Ein Schicksal, das sogar diesem Naturpark droht. Niemand kümmert sich um die Abholzung. Staatliche Autorität in Form von Forstbehörde und Polizei, die den illegalen Einschlag und die Umnutzung in Ackerland verhindern könnten, ist hier in über 1.600 Meter Höhe seit Jahren nicht mehr präsent.

„Die Böden sind ausgemergelt“, sagt Anglade. Um ihren Lebensunterhalt weiterhin zu bestreiten, seien die Bauern quasi gezwungen, immer mehr Waldboden in landwirtschaftliche Nutzfläche zu verwandeln. Und so wundert es ihn überhaupt nicht, dass ein Waldstück weiter jemand knapp über dem Erdreich Feuer gelegt hat. Die Rinde der Bäume ist schwarz verkohlt.

Welche Auswirkungen das Abholzen der Wälder haben kann, wurde den Bauern im Mai auf sehr drastische Weise bewusst. Tagelang hatte es sintflutartig geregnet. Aber für die Menschen im Hochland – 2.000 im Marktflecken Mapou, 12.000 in der näheren Umgebung – sind starke Regenfälle im Mai nichts Besonderes. Im Mai ist Regenzeit und im Mai wird gepflanzt. Die erbsenähnliche Guandule, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Mais und Möhren gedeihen prächtig. Das Hochland von Mapou ist wie eine riesige Badewanne, nur dass die Natur bei der Konstruktion den Abfluss vergessen hat. Und als sich die Menschen schon längst zur Ruhe begeben hatten, rutschten Schlamm und Geröll von den kahlen Bergen ins Tal, begruben die Ansiedlungen und brachten 2.500 Menschen den Tod.

Warum sich in der Nacht zum 24. Mai die Flutwelle in das Hochtal ergossen hat, erkennt man beim Blick auf die Anhöhen rund um Mapou: Blanker Stein mit einer dünnen Erdschicht, auf der nur noch kleine Sträucher und Büsche Halt finden. Vereinzelte Baumstümpfe erinnern daran, dass dies einmal eine dicht bewaldete Gegend war. „Ohne den Kahlschlag wären die Erdmassen nicht zu Tal gerast“, sagt Ute Braun, die Leiterin der „Agro Action Allemande“, der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti beim Besuch im Unglückstal.

Noch immer kämpfen die Menschen ums Überleben. Am westlichen Rand von Mapou ist für die Obdachlosen eine neue Notsiedlung entstanden. Fragile Hütten so weit das Auge reicht. Dünne Baumäste und Holzstangen bilden das Grundgerüst, die Wände und Dächer bestehen aus dicken, weißen Plastikplanen, die vom internationalen Roten Kreuz bereitgestellt wurden. Auf den kahl geschlagenen Anhöhen rund um das Hochtal fressen sich derweil kleine Trassen in die Hänge hinein. Andere Flutopfer ebnen sich einen neuen Wohnplatz hoch über jenem Terrain, wo einst ihre Häuser standen.

Vor einer der Behelfshütten steht Jackson Noel. Auf seinem weißen T-Shirt steht in grünen Lettern „Oxfam“, der Name der englischen Hilfsorganisation. Der 20-Jährige betreut Flutopfer, dabei ist er selbst betroffen. „Die Hütte meiner Familie befindet sich noch völlig unter Wasser“, erzählt er, „zum Glück konnten sich alle retten.“

Auch Vousette Vilmar ist obdachlos. Zusammen mit der Familie und ihren zwei Kindern konnte sich die 23-Jährige auf die gemauerte Vorratskammer ihres Hauses flüchten. Das Haus selbst ist seit der Flut unbewohnbar, die Geröllmassen haben es fast zum Einsturz gebracht. Jetzt lebt Vilmar auf knapp acht Quadratmetern. „Aber die Hitze macht den Aufenthalt darin schon frühmorgens unmöglich“, sagt sie. Das Familienleben spielt sich im Schatten eines fast völlig kahlen Baumes ab.

Knapp zwei Kilometer östlich vor Mapou herrscht nach wie vor der Ausnahmezustand. Ein circa ein Quadratkilometer großes Areal steht noch immer unter Wasser. Palmdächer ragen heraus, die überfluteten Mango- und Avocadobäume lassen ihre inzwischen braun gewordenen Blätter hängen. Die Luft riecht faul und moderig, überall Geröll. Die kalkhaltigen Steine werden inzwischen gesammelt und nach Größe sortiert von Lastkraftwagen abtransportiert, die noch immer Hilfsgüter und Waren in die Region bringen. Alternativökonomie.

Bäume fällen müssen die Menschen im Tal von Mapou derzeit nicht. Die Flut hat eine Großzahl der Bäume, die einmal hier standen, entwurzelt. Überall in der Umgebung qualmen Köhlerhaufen zur Holzkohleproduktion. „Das gleiche Schicksal wollen wir dem Fichtenwald ersparen“, sagt Ludovic Anglade mit Blick auf die Katastrophenregion Mapou. Und „Agro Action Allemande“-Chefin Braun zeigt sich optimistisch. „Die Katastrophe hat vielen deutlich gemacht, wie wichtig der Umweltschutz für ihr Leben ist“, sagt sie.

Vielleicht gibt es ja auch für den rund zehntausend Hektar großen Fichtenwald im Sellemassiv noch eine Chance. Und für die Menschen die Hoffnung, künftige Flutkatastrophen zu verhindern. Mit einem Projekt mit dem etwas sperrigen Titel „Ressourcenmanagement im ‚Forêt des Pins‘ “ will die Deutsche Welthungerhilfe gemeinsam mit dem Lutherischen Weltbund den Bewohnern der Region zeigen, „dass man den Wald bewirtschaften kann, ihn pflegen und bewahren und mit selektivem Baumschlagen auch Einkommen erzielen kann“, sagt Ute Braun. In Guatemala habe man mit einem ähnlichen Projekt bereits gute Erfahrungen gemacht.

Im Forsthaus von „Forêt des Pins“ ist eine Gruppe von Bauern der Umgebung eingetroffen – zur Planungssitzung. Über eine Stunde sind sie zu Fuß aus ihren Dörfern gelaufen, um die nächsten Schritte des Projekts zu besprechen. Sie haben sich bereits in zwei Kooperativen mit insgesamt 84 Mitgliedern zusammengeschlossen. Nur über den Waldfrevel vergangener Tage wollen sie nicht so gerne reden. „Was willst du machen. Irgendwo mussten wir ja was anbauen, um zu leben“, sagt einer der Anwesenden achselzuckend. Seinen Namen will er lieber nicht nennen, sagt er verlegen. Denn natürlich hat auch er früher mit der Machete auf die Fichten eingeschlagen, illegal Bäume gefällt, um danach den ehemaligen Waldboden roden und bestellen zu können. „Die Bauern haben verstanden, dass es uns um die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen geht und nicht nur um den Erhalt des Waldes zu Lasten ihres Einkommens“, sagt Ute Braun.

Die Mehrheit treibt die schiere Not zum Walderhalt. Denn die Böden sind inzwischen völlig ausgelaugt, die Erträge rückläufig. Und mit einigen Augen können die Bauern auf den Anhöhen, die ihre Hütten umgeben, sehen, dass sie, wenn sie so weitermachen, ihre eigene Existenzgrundlage zerstören: Abgerutschte Hänge, die die Felder mitgerissen haben, blanker Stein, auf dem sich nichts mehr anbauen lässt, kann man von der Terrasse des Hauses von Saintil Rony erkennen.

Darum hat auch Saintil Rony umgedacht. Stolz präsentiert er die ersten Zuchterfolge von Fichtensetzlingen für das Pflanzprojekt. Der 30-Jährige bewirtschaftet eine kleine Parzelle und verdingt sich manchmal als Tagelöhner für einen Hungerlohn von umgerechnet einem Euro. Fast 7.000 Setzlinge sind eingehüllt in schwarze Plastiktüten und unter einem Sonnenschutz auf knapp 30 Zentimeter gewachsen. „Wenn die Regierung uns endlich die notwendigen Flächen zur Bewirtschaftung verpachtet, können wir sofort anfangen“, erzählt Saintil, während er mit seinem Kollegen Unkraut aus den Pflanztüten jätet.

Das ist der Plan: Die haitianische Regierung überlässt den Bauern vertraglich Flächen des abgeholzten Forstnaturschutzparks zur Bewirtschaftung. Die Bauern müssen sich im Gegenzug verpflichten, diese Flächen aufzuforsten. In einer Übergangszeit können sie die Pflanzflächen sogar zusätzlich für den Anbau von Gemüse nutzen. In dieser Zeit erhalten die Bauern für Vorbereitung des Bodens, die Pflanzung der Fichtensetzlinge und die Pflege der Baumschule einen finanziellen Zuschuss. „Wenn die Bäume jedoch größer sind, wird dies nicht mehr gehen“, befürchtet Ludovic Anglade. „Dann werden die Bauern das erste Geld damit verdienen, dass sie den Wald auslichten und das geschlagene Holz verkaufen.