„Ein negativer Kontinent“

Alles im Fluss: Der britische Kulturwissenschaftler Paul Gilroy über seine Theorie des „Black Atlantic“, multikulturelle Nationen und die Frage der Assimilation sowie die Melancholie der weißen Europäer

INTERVIEW JAN ENGELMANN

taz: Herr Gilroy, in Berlin hat hat gerade ein Festival begonnen, dessen Titel „Black Atlantic“ Ihrem gleichnamigen Theoriewerk von 1993 entlehnt wurde. Sie bezeichneten damit einen transkulturellen Raum, in dem sich Schwarze Geschichte und Gegenwart verorten lassen. Wodurch zeichnet sich denn der „Black Atlantic“ aus?

Paul Gilroy: Meine Intention war, Kulturgeschichte aus dem engen Zusammenhang mit Nationen zu reißen und die Geschichte schwarzer Intellektueller – jawohl, es gibt sie! – in ein nuancierteres Verhältnis zu den edelsten Hervorbringungen der europäischen Ideengeschichte zu bringen. Die eigentliche Provokation des Buchs lag wohl darin, dass Kultur darin nicht mehr gemäß ihrem lateinischen Ursprungswort agricultura gedacht war, also als ein sesshaftes und bodenständiges Phänomen.

Aus ebendieser althergebrachten Ökologie der Zugehörigkeit versuchte ich auszubrechen und in eine Umgebung einzutauchen, die ständig im Fluss bleibt. Das Medium Wasser ist ja einerseits ständig in neuen Mischungsverhältnissen anzutreffen, andererseits eine äußerst nachhaltige Substanz, die den Großteil unseres Körpers bildet.

Mit dieser fluiden Konzeption von Kultur war jedoch keinesfalls beabsichtigt, die See gegen das Territorium auszuspielen. Ich wollte vielmehr zeigen, wie das Ozeanische das Festland verformt. Deshalb spreche ich vom Black Atlantic als einem „negativen Kontinent“, der uns dazu zwingt, die Verbindungs- und Verkehrswege der Schwarzen Diaspora in den Blick zu nehmen.

Der Black Atlantic ist also ein historisch und geografisch klar definierter Raum?

Ja, aber er ist eben genauso Teil unserer Einbildungskraft. Man muss beispielsweise nur daran erinnern, welche Mitgliedsstaaten mittlerweile das so genannte transatlantische Bündnis bilden. Der Black Atlantic ist real, imaginär und symbolisch zugleich.

Das Buch scheint den üblichen Weg vieler kulturtheoretischer Werke gegangen zu sein: Jeder zitiert es, doch kaum einer hat es auch gelesen …

Niemand liest mehr. Man gebraucht Bücher lediglich noch als leuchtende Hoffnungsträger. Das ist zwar ein wenig frustrierend, aber andererseits brauchst du ja nur zu alten Reggae-Platten von Burning Spear oder Freddy McGregor zu greifen, und schon breitet sich die gesamte Essenz und innere Wahrheit des Black Atlantic vor dir aus. Ladet euch das Zeug runter, Leute!

Wussten Sie, dass die Theorie des Black Atlantic die Blaupause für den Roman „Hellblau“ von Thomas Meinecke abgab?

Das ist ja wundervoll – nein, das wusste ich nicht. Ohnehin betrachte ich sowohl das Buch wie die darin behandelte Kultur wie einen Open Source Code, den man gebrauchen und weiterentwickeln kann. Die afroamerikanischen Superstars der Gegenwart sind für mich ein bisschen wie Bill Gates, weil sie ihre Copyrights unnachgiebig verteidigen und alles kontrollieren wollen. Meine Vorstellung von öffentlicher Kultur ist anders: Musikalische Stile, Schreibweisen oder Bildsprachen, die gemeinsame Wünsche und Träume artikulieren, sollten auch für jedermann zugänglich sein. Wenn dir mein Buch irgendwie weiterhilft, etwas Eigenes zu entwickeln, ist das doch super.

Wie kam es nun zu der Idee, in Berlin ein großes Festival in Berlin zu machen, das die Themenvielfalt von „Black Atlantic“ in diversen Kunstsparten – Konzerte, Filme, Ausstellung, Lesungen – aufgreift?

Die Leute vom Haus der Kulturen der Welt riefen mich einfach an. Es schien damals einen doppelten Bedarf zu geben, nämlich einerseits die globale Ebene der Schwarzen Diaspora zu behandeln und das Projekt gleichzeitig lokal zu erden – also auch die afrodeutsche Geschichte und gegenwärtige Probleme mit Rassismus abzubilden. Warum man ausgerechnet mir zutraute, diese schwierige Vorgabe zu erfüllen, weiß ich bis heute nicht.

Am Musikprogramm fällt auf, dass ausgerechnet afrodeutsche Rapper fehlen, die hierzulande wichtige Sprachrohre sind. Wie erklärt sich dieses Manko?

Während der Planungen sprach ich mit dem Rapper Torch, und er wird bei den Jams innerhalb der von Jean-Paul Bourelly organisierten „Congo Square“-Reihe sicher noch zum Mikro greifen.

Natürlich ist das Thema HipHop virulent. Einerseits ist er trotz seiner gegenwärtigen Krise immer noch ein probates Terrain dafür, die Frage zu verhandeln, was Deutschsein und Schwarzsein eigentlich bedeuten.

Andererseits wird HipHop im internationalen Maßstab immer mehr als Soundtrack für eine unhinterfragte Konsumkultur wahrgenommen. Selbst in Werbespots für die US-Army wird er eingesetzt. Mich stört in diesem Zusammenhang einfach die Tatsache, dass bei jeder Behandlung von Fragen im Zusammenhang mit „Rasse“ ausgerechnet die USA der alleinige Bezugspunkt sein sollen. Warum sollte nicht Südafrika in die Zukunft weisen? Oder Deutschland?

Hierzulande gibt es wohl noch Nachholbedarf, was die Anerkennung einer multiethnischen Wirklichkeit angeht. In der Politik wird fast nur über Integration debattiert, ganz wie in den Siebzigerjahren.

Die europäischen Modelle der Assimilation, man denke nur an die Juden in Deutschland, haben eine sehr lange Geschichte und zum Teil sehr gewalttätige Gegenbewegungen stimuliert. Davon müssen wir uns komplett verabschieden. Die Komplexität der kulturellen Formationen, mit der wir es jetzt zu tun haben, erfordert ein gänzlich neues Denken. Wie lange muss ich mich denn eigentlich als Einwanderer und damit als Fremder im eigenen Land fühlen? Zuletzt habe ich mich sehr mit den Geschichten jungen Männer mit europäischen Staatsbürgerschaften beschäftigt, die sich zum Islamismus hinwandten.

War denn Richard Reid, der „Schuhbomber“ vom Dezember 2002, ein Einwanderer? Nein. Sein Vater? Nein. Lediglich sein Großvater kam aus Jamaika. Dasselbe Problem stellte sich bei Zacharias Moussaoui, den man als mutmaßliches Al-Qaida-Mitglied wegen des 11. September anklagte. War er Franzose? Oder Marokkaner? Oder doch eher Teil eines Netzwerks, das auch Brüssel, Amsterdam und London umspannte? Totale Konfusion also.

Wir müssen eher größere Zeiträume in den Blick nehmen als uns auf die verkürzte Alternative „Assimilation oder Abweichung“ zu beschränken.

Das Problem der Assimilation wird auch in den Autobiografien von Afrodeutschen verhandelt, die zuletzt einen kleinen Boom erlebten. Sie alle umkreisen in ihren Worten jenes „doppelte Bewusstsein“, das schon W. E. B. Du Bois beschrieb. Sind andere Länder über diese Phase der Selbstverortung nicht längst hinweg?

Heute ein schwarzer Deutscher zu sein dürfte in etwa dem entsprechen, was es 1904 hieß, in den USA ein „Neger“ genannt zu werden. Diese historischen Ungleichzeitigkeiten zu vergleichen ist sicher interessant. Es hilft aber wenig bei der Frage, wie man den Assimilationsdruck überwinden könnte. Dafür braucht es schon ein neues Konzept für die multikulturelle Gesellschaft als solche. Welche Bedingungen des Zusammenlebens gibt es in den Metropolen? Wie behandeln wir das „Normale“ beim täglichen Ausgesetztsein mit Differenz?

Im Moment scheinen solche postkolonialen Themen nicht sehr en vogue zu sein. Deutschland durchläuft eine schwierige Phase, Neonazis reüssieren an den Wahlurnen. Identitätsfragen werden da entweder an die Fußballnationalelf oder Hitler-Filme delegiert.

In England passiert gerade dasselbe: Ein melancholisches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit setzt sich auf allen Ebenen durch. Zwar kann der Verlust des Empire nicht mehr lautstark beweint werden, aber psychologische Reaktionen wie Selbstekel, Stolz oder Hass artikulieren sich neu. Jede sich bietende Möglichkeit, den gewonnen Weltkrieg oder die gewonnene Weltmeisterschaft von 1966 mit einem sportiven Event zu wiederholen, wird dankbar angenommen.

Aus dieser Fixierung auf einen angeblich beklagenswerten nationalen Niedergang müssen wir heraus und endlich das Gefühl der Unbehaustheit abstreifen. Ich bin mir sicher, dass mindestens die Hälfte der Deutschen ein anderes Land sein wollen …

Italien, vermutlich.

Na bitte. Die Engländer sind sich da noch nicht so sicher. Zwar will keiner die imperiale Macht der USA, und jeder möchte die Queen am liebsten auf dem Fahrrad sehen. Aber die Mehrheit wünscht sich schon eine neue narrative Rahmung dessen, was die Nation im Innersten zusammenhält. Es gibt dabei keine automatische Abwehrhaltung gegenüber Differenz, und der Rassismus, der sich unter diesen Bedingungen zeigt, ist nicht einfach ontologischer Art.

Berlin wird gemeinhin weniger als eine postkoloniale, sondern als eine einstmals kolonisierte Stadt angesehen. Für die Zukunft erträumt man sich den Status einer hippen, hybriden Metropole. Ist diese multikulturelle Utopie nicht allzu verklärt?

Das Selbstbild als kolonisierte Stadt ist sicher Teil des melancholischen Opfer-Diskurses, von dem wir eben sprachen. Der Ehrgeiz, Berlin in Richtung eines postkolonialen Raumes weiterzudenken, bedeutet einen klaren Bruch mit seiner historischen Einbindung in den europäischen Kontext. Doch die imaginative Anstrengung, ebendies zu bewerkstelligen, ist sicher nicht die Angelegenheit schwarzer Intellektuellen, sondern ganz allein eure. Es leben ja bereits viele Menschen hier, die ihre eigenen Geschichten sozusagen als Interpretationshilfen anbieten. Wie weit entfernt sind wir denn hier vom Ort der Kongo-Konferenz 1885, welche die geopolitische Neuordnung des kolonialen Raumes vollzog? Es liegt doch alles um die Ecke.