: Der Tod kam Sonntag am Fluss
Kriegsopfer aus Serbien-Montenegro klagen gegen die Bundesrepublik wegen der Nato-Einsätze im Jahre 1999. Kläger berufen sich auf Zusatzprotokoll zum Genfer Abkommen: Zivilisten hätten bei Angriffen besser geschützt werden müssen
aus Bonn HEIDE PLATEN
Zoran Milenkovicć ist ein großer, bedächtiger Mann. Der Bürgermeister spricht mit leiser Stimme für seine Kleinstadt Varvarin, 180 Kilometer südlich von Belgrad im heutigen Serbien-Montenegro. Der 30. Mai 1999, sagte er gestern im Saal 19 des Bonner Landgerichts vor der 1. Großen Zivilkammer, „war ein wunderschöner Tag“, ein Sonntag. Die 4.000 Einwohner feierten das serbisch-orthodoxe Fest der Heiligen Dreifaltigkeit. Es war der Todestag seiner 15-jährigen Tochter Sanja.
Um 13 Uhr bombardierte ein Kampfjet der Nato die Brücke über den Fluss Morava, zwei Raketen schlugen ein. Sanja und zwei ihrer Freundinnen stürzten zwischen den Trümmern in den Fluss, mehrere Menschen, auch Sanja, starben. Beim nächsten Angriff kamen andere zu Tode, die zu helfen und zu retten versuchten. Zoran und Vesna Milenković klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland. Sie wollen vom Nato-Partner Deutschland eine Entschädigung für das Leid der Opfer, für die 17 Schwerverletzten und die 10 Toten. Sie klagen zusammen mit 33 weiteren betroffenen Einwohnern und berufen sich dabei vor allem auf das Zusatzprotokoll I über den Schutz der Opfer von internationalen bewaffneten Konflikte des Genfer Abkommens, das 1977 ratifiziert wurde. Es verpflichtet die Kriegsparteien dazu, den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Dies sei in Varvarin, so die Vertreter der Kläger, die Hamburger Rechtsanwältin Gül Pinar, und ihr Berliner Kollege, Ulrich Dost, nicht geschehen.
Varvarin, im Kosovokrieg weitab von jeder Kampfhandlung und militärisch völlig unbedeutend, sei ohne Grund und ohne Vorwarnung angegriffen worden, so die Rechtsanwälte. Deutschland habe den Luftangriff zwar nicht selbst geflogen, ihn wohl aber mit zu verantworten, weil es als einer der 19 Nato-Beteiligten das Recht zu einem Veto gegen den Einsatz gehabt und nicht genutzt habe.
Der Musterprozess ist der erste, bei dem Opfer einer aktuellen Kriegshandlung Entschädigung von der Bundesrepublik fordern. In vorausgegangenen Prozessen waren Einzelkläger gegen Kriegsverbechen im Zweiten Weltkrieg gescheitert, weil das internationale Recht nur den Ausgleich zwischen Staaten vorsieht. Zuletzt lehnte der Bundesgrichtshof im Juni Ansprüche der Einwohner des griechischen Dorfs Distomo ab, in dem die SS 1944 ein Massaker angerichtet hatte. Die Vertreter der Bundesrepublik teilten gestern Vormittag diese Rechtsauffassung. Die Bundesrepublik habe die Angriffe nicht selbst verschuldet, von ihnen nichts gewusst und erkenne nur Reparationszahlungen zwischen Staaten an. Im Übrigen bedaure sie das Geschehen.
Rechtsanwalt Ulrich Dost appellierte an die deutsche Rechtsprechung, sich die seit 1945 wachsende Entwicklung hin zu einem „humanitären Völkerrecht“, das auch individuelle Schäden anerkenne, zu Eigen zu machen. Die Bombardierungen so kurz vor Kriegsende hätten gezielt der Einschüchterung der Zivilbevölkerung dienen sollen. Das Verteidigungsministerium habe sehr wohl von Angriffen gewusst, aber dennoch keinen Einspruch erhoben. Dies müsse strafbar sein, „sonst sind alle Verträge obsolet“. Es gehe nicht primär um die Entschädigung für die Betroffenen, sondern um „die Durchsetzung der Menschenrechte“, für die die Bundesrepublik „in den letzten 30 Jahren sehr viel getan“ habe.
Bürgermeister Zoran Milenković bedankte sich ausdrücklich bei den Spendern, die die Klage möglich gemacht hatten. Er wisse, dass die USA weit größere Schuld trügen. Doch dafür, dort vor Gericht zu gehen, fehle ihm und seinem Ort das Geld. Der Vorsitzende Richter Sonneberger kündigte seine Entscheidung für den 10. Dezember an.