: Opferschutz
Zu Besuch beim Weißen Ring
VON GABRIELE GOETTLE
Regina Geis, Verwaltungsangestellte i. R., Leiterin d. Außenstelle Nord II d. Opferschutzorganisation Weißer Ring. 1938 Einschulung i. d. kath. Mädchenschule Berlin Kreuzberg, 1947 Abschluss 9. Klasse Mittelschule, anschl. Lehre, Dienstanwärter beim Magistrat von Großberlin. Verw.-Angestellte ab 1950 tätig als Rentensachbearbeiterin i. Versorgungsamt I Berlin (Kriegsopferversorgung). 1961–1989 d. Mauerbau unvorhergesehene Staatsbürgerschaft i. d. DDR, währenddessen mithelfendes Familienmitglied i. selbst. Installationsbetrieb d. Ehemannes. Nach Mauerfall, v. 1990–1997, Wiederaufnahme d. Tätigkeit b. Versorgungsamt, zuletzt als Rentengruppenleiter d. Kriegsopferversorgung. Ehrenamtliche Mitarbeit b. Weißer Ring seit 1997. Regina Geis wurde 1932 in Berlin geboren, ihr Vater war Kfz-Meister, ihre Mutter Hausfrau, sie ist verwitwet und hat zwei Kinder.
200.000 Menschen fallen bei uns jährlich einem Gewaltdelikt zum Opfer. Wer unmittelbar davon betroffen ist, muss seiner Zeugenpflicht vor Gericht nachkommen. Er hat damit, zusätzlich zu seinem Schaden und seinen Verletzungen, auch noch eine juristische Prozedur durchzustehen, bei der er – trotz einiger gesetzlicher Nachbesserungen – schlechter gestellt ist als der Täter. Schlecht steht es auch mit Informationen für die Opfer über Art und Umfang der ihnen gesetzlich zustehenden Hilfsleistungen. Diesen Problemen widmet sich der Weiße Ring. Er ist die einzige bundesweit agierende Opferschutzorganisation und unterhält ein weit verzweigtes Hilfsnetz für in Not geratene Kriminalitätsopfer. Die Vereinsgründung war 1976. Sie fand auf Initiative des rechtsliberalen Fernsehfahnders Eduard Zimmermann statt, bekannt durch seine Fernsehsendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“. Sein Name wie auch die Namen einiger Mitbegründer, wie der des damaligen Chefs des Bundeskriminalamts Horst Herold oder des Berliner Polizeipräsidenten Hübner, jagen heute noch jedem Altlinken Schauder über den Rücken. Weshalb die Herren ein derartig großes Interesse an der Opferhilfe hatten, ist nicht überliefert. Überliefert ist, dass die insgesamt 17 Gründer des Vereins damals sofort alle einen Vorstandsposten besetzten, sodass kein Mitglied übrig blieb.
Das änderte sich bald. Heute hat der Weiße Ring etwa 65.000 Mitglieder, mit abnehmender Tendenz. Der Verein finanziert seine Arbeit aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen, Geldbußen und Erbschaften. Etwa drei Viertel des Geldes fließen in die Opferhilfe, ein Teil wird für die Kriminalitätsvorbeugung verwendet, u. a. für Gewaltprävention an den Schulen. Der Verein hat seine Bundesgeschäftsstelle in Mainz. Er hält seinen Verwaltungsaufwand dadurch sehr klein, dass er nur wenige hauptamtliche Kräfte hat und die gesamte praktische Arbeit von ehrenamtlichen Mitarbeitern übernommen wird. Derzeit betreuen 2.500 Ehrenamtliche, verteilt auf 400 Außenstellen, die Hilfe suchenden Opfer.
Eine dieser Ehrenamtlichen ist Regina Geis. Sie lebt in Heinersdorf, im Nordosten Berlins, in einer schmucken weißen Wohnanlage aus der Nach-DDR-Zeit. Hier steht inmitten ihres kleinen, säuberlichen Reichs, das verziert ist durch alte Kupfergefäße an den Wänden, alte Fotos, eine kleine Kristallsammlung, Kakteen und Zierporzellan im Wandschrank, das Notruftelefon.
„Das Telefon hat mir der Weiße Ring eingerichtet“, erzählt Frau Geis mit fester Stimme. Aber das Faxgerät habe ich von einem Opfer geschenkt bekommen. Die Anrufe gehen auf den Anrufbeantworter, und ich rufe dann zurück. Das Telefon bezahlt der Weiße Ring. Es gibt ein Konto, darüber bezahle ich alle Ausgaben von mir und meinen Mitarbeitern – also das sind Telefon- und Fahrtkosten und auch mal für ein Blümchen, das man mitbringt. Das ist es schon, es ist nicht viel. Also, Sie müssen sich das so vorstellen, wir, der Weiße Ring, wir haben ja keine Büros oder Anlaufstellen, wir machen das alles von zu Hause aus, das Organisatorische. Die Opfer allerdings kommen nicht zu uns in die Wohnung. Es ist immer so, dass wir zu den Opfern gehen. Es ist praktisch ein Prinzip, dass wir das Private getrennt halten. Das hier, mit Ihnen heute, das ist eine große Ausnahme.“ Sie lächelt freundlich. „Ich mache die Arbeit ja jetzt im sechsten Jahr, habe die Außenstelle hier praktisch aufgebaut, und damit Sie einen Eindruck haben vom Umfang: So eine Außenstelle entspricht in etwa einer Kleinstadt. Wir haben 400 Außenstellen in Deutschland. Meine Außenstelle heißt ‚Nord II‘ und sie umfasst die Bezirke Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee, und kommissarisch mache ich auch noch Friedrichshain mit. Ich habe dafür 7 Mitarbeiter, 7 Mitarbeiter für 4 ‚Kleinstädte‘. Im Augenblick habe ich auch 3 Hospitanten, die sich gemeldet haben, eine Psychologin, eine Angestellte der Feuerwehr und einen ehemaligen Schiedsmann. Wir haben ja Mitarbeiter aus allen Schichten und Berufen, wir suchen übrigens ständig neue Mitarbeiter.
Und unsere Hauptaufgabe ist eben die, die verstörten und verunsicherten Opfer an die Hand zu nehmen, erst mal Trost zuzusprechen und sie dann über ihre Rechte und Möglichkeiten aufzuklären. Wir stellen mit ihnen die Anträge und sind eben generell behilflich. Es ist ja im Allgemeinen so, dass das Opfer eher abwiegelt, sagt, ach, es geht schon wieder! Ja, das dient der Selbstbeschwichtigung. Aber in Wirklichkeit ist es so – also nach meiner Erfahrung läuft das immer nach einem bestimmten Muster ab – derjenige, der die Gewalt erlitten hat, der es erleidet, dieses Trauma, der hat sehr große Schwierigkeiten, das einzuordnen, darüber zu sprechen oder es zu bewältigen. Weil sie eigentlich eher schweigsam sind, werden sie oft vergessen, die Opfer von Kriminalität und Gewalt. Und deshalb kümmern wir uns. Mein Steckenpferd ist – und das ist mir ein großes Anliegen – das Opferentschädigungsgesetz, das OEG – das weithin unbekannt ist – bekannt zu machen und den Opfern, für die es ja da ist, zu übermitteln. Ich komme beruflich aus dem Versorgungsamt – wo ich zwar durch den Mauerbau eine 29-jährige Zwangspause einlegen musste, aber nach der Wende wieder eingestellt wurde – und da war ich für die Kriegsopferversorgung zuständig, habe wichtige und grundlegende Kenntnisse erworben, die ich jetzt nutzen kann. Das ist Bundesgesetz, der Staat sorgt für die Opfer des Krieges, und 1976, kurz nach der Gründung des Weißen Rings, hat er sich auch zu einem Opferentschädigungsgesetz für die Opfer von Gewalttaten durchgerungen.
Also dieses Gesetz regelt die körperlichen Schäden, nicht zu verwechseln mit dem, was an Wiedergutmachung und Schmerzensgeld dann auf dem rechtlichen Wege erstritten werden muss. Hier geht’s nur um körperliche Schäden, um ihre Einschätzung, um Erwerbsminderung und Prozentzahl oder auch Heilbehandlung. Das Opfer einer Gewalttat hat Anspruch auf Heilbehandlung, lebenslang! Das ist in Zeiten, wo die Kassen alles knapp halten, wichtig zu wissen. Und wenn die Erwerbsminderung mehr als 25 Prozent beträgt, hat das Opfer Anspruch auf Rente. Das ist zu wenig bekannt, es wird auch nicht ungefragt mitgeteilt, und insofern stellen die Betroffenen gewöhnlich auch keinerlei Anträge.“ [Nur 11 % d. Geschädigten erheben Ansprüche, davon werden wiederum nur 40 % als Opfer im Sinne d. OEG anerkannt, Rentenleistungen werden nur etwa 18 % d. Antragsteller zugesprochen. Anm. G.G.] „Und sehen Sie, ich wollte meine Kenntnisse ja nicht einfach mit 65 beiseite legen und mich zur Ruhe setzen, und deshalb eigentlich bin ich dann beim Weißen Ring Opferhelfer geworden. Und heute bin ich Außenstellenleiter. Meine guten Verbindungen zum Versorgungsamt hatten beispielsweise auch den Vorteil, dass, wenn’s um Anträge geht, ich das Opfer nicht erst zum Amt schicken muss, die Formulare habe ich schon da.“ Wir bitten um ein Beispiel, um einen ganz gewöhnlichen Fall. Sie denkt kurz nach und erzählt, etwas widerstrebend anfangs:
„Also eine Rentnerin, 80 Jahre, wurde auf der Straße von einem Radfahrer von hinten und absichtlich angefahren, er riss ihr die Tasche weg, und beim Aufprall ist das Opfer gestürzt und hat eine Oberschenkelhalsfraktur erlitten. Der Fall ist mir über die Kriminalpolizei vermittelt worden. Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist in Berlin zum Glück sehr eng inzwischen. Als ich anfing, war’s noch so: Die Polizei läuft dem Täter nach, ihrer Aufgabe entsprechend, und das Opfer bleibt auf der Strecke. Das hat sich weitgehend geändert. In jeder Polizeidirektion gibt es einen ‚Opferschutzbeauftragten‘, auch beim Landeskriminalamt. Der Weiße Ring bietet ja auch eineinhalbtägige Seminare an, da geht es um diese Verzahnung. Ein Teil unserer Mitarbeiter kommt übrigens aus dem Polizeidienst. Zurück zum Opfer: Ich bekam als diese Meldung, informierte meine Mitarbeiterin, und die geht erst mal mit ein paar Blümchen ins Krankenhaus und macht den ersten Besuch. Das Opfer steht praktisch noch unter Schock, erzählt aber dann u. a., sie hat einen 80-jährigen Ehemann zu Hause, der auch nicht zurecht kommt, dann war natürlich Geld in der Tasche usw. Wenn jemand bedürftig ist, dann schauen wir, ob wir mit einem kleinen Obulus helfen können. In dem Fall kam noch verschärfend hinzu, dass in der Tasche auch die Schlüssel waren, und die gehörten zu einer großen Schließanlage, da hatte die Wohnungsverwaltung gleich signalisiert, dass alle Schlösser … und es gab keine Versicherung. So war der Oberschenkelhalsbruch nur eines von vielen großen Problemen, die plötzlich entstanden waren, damit kann man ja schlecht alleine fertig werden, schon gar nicht mit 80. Und da ist es dann schon erleichternd, wenn jemand einen Brief schreibt an die Wohnungsverwaltung, das mache ich dann mit meinem Briefkopf, ich kann hier auch einen Anwalt fragen. Früher hatte ich immer einen Vorgesetzten, heute habe ich gelernt, viele Dinge selber zu regeln, man setzt in mich großes Vertrauen. Und für alles, was komplizierter ist, haben wir zwei Juristen in der Mainzer Zentrale. Die entscheiden auch über die Opfer- und Rechtshilfen, die wir leisten. Denn wenn jemand keine Prozesskostenhilfe, keinen Rechtsschutz hat, dann übernimmt der Weiße Ring die Kosten. Das wird alles in Mainz entschieden, für die gesamte Bundesrepublik, für die 400 Außenstellen! Wir haben ja pensionierte Juristen im Vorstand, Juristen, die also in Ministerien waren, im Justizministerium oder in den Ländern, und auch eine ganze Reihe von Polizeipräsidenten a. D., die machen alle beim Weißen Ring mit. Das macht mich auch sehr stolz, dass sich da auch Menschen mit Sachverstand einbringen, der Verein stellt ja auch Forderungen an die Justiz, an den Gesetzgeber …“
Frau Geis steht auf und holt einige Unterlagen für uns, Broschüren des Weißen Rings und die gleichnamige Zeitschrift des Vereins. „Das können Sie alles mitnehmen, da steht noch mal Genaueres drin zum Thema, auch ein Interview mit der Justizministerin Zypries. Also, wie ich Ihnen an dem kleinen Beispiel mit dem Handtaschenraub gezeigt habe, wir helfen Opfern von Straftaten, ausschließlich. Die ganze Palette der Verkehrsdelikte hingegen ist nicht im Opferentschädigungsgesetz geregelt, ausgenommen es handelt sich um Fahrerflucht. Also Opfern krimineller Gewalt wird geholfen.“ Auf unsere Frage, ob der Weiße Ring denn auch einem Opfer von Polizeigewalt beistehe, sagt Frau Geis ohne jedes Zögern: „Ja, sicher! Wenn es sich um eine Straftat handelt, wenn da Übergriffe stattgefunden haben. Es gab sogar einen solchen Fall, ich hatte da die Leiterin einer Seniorenfreizeitstelle, die ist selbst ein solches Opfer geworden, nach einer Demonstration. Der Sohn dieser Leiterin war auch bei der Demonstration, der wurde vom Bundesgrenzschutz sehr rüpelig angesprungen, und Mutter und Vater sind dazwischen, da ist das dann eskaliert … Es ist nicht einfach, so ein Fall, das gebe ich zu, weil ja viele Polizeibeamte bei uns Mitglied sind, aber Straftat ist Straftat, da wird kein Unterschied gemacht.“ Wir fragen, wie es mit Ausländern steht. „Ich habe wenig Ausländer hier, ich weiß aber, dass in der anderen Außenstelle, Nord I, das ist Wedding und Reinickendorf, da kommen dann auch schon mal welche. Gut, so allmählich mischt es sich immer mehr, zu uns in die billigen Plattenbausiedlungen kommen auch immer mehr Ausländer. Jetzt grade hatte ich eine Pakistani, die ich beim Prozess begleitet habe, der Täter war ein Araber. Die Frau sprach gut deutsch, es gab keine Verständigungsschwierigkeiten. Also damit habe ich kein Problem, aber, wie gesagt, es ist selten.
Also, wir haben besprochen, wie das Opfer zu uns kommt, wenn wir von der Polizei benachrichtigt werden, aber Hilfesuchende können uns natürlich auch direkt anrufen, und zwar bundesweit unter der zentralen Rufnummer: (0 18 03) 34 34 34 (0,09 Euro/Min.), aber auch über die regionalen Rufnummern und übers Internet. Gut, und dann gibt’s eine finanzielle Hilfe als Möglichkeit, also ich kann im Notfall bis zu 250 Euro sofort geben aus diesem Konto, das ich erwähnt habe vorhin. Und es gibt zwei Schecks, zwei Beratungsschecks. Der eine ist für einen Anwalt – denn ich gebe ja keine Rechtsauskunft – und der zweite Scheck ist für einen Traumapsychologen.
Das ist neu. Also nicht für eine Behandlung, sondern für eine Beratung. Das lässt sich sehr gut an, die Leute sind ja unendlich dankbar, wenn ihnen jemand ganz professionell zuhört und Fragen stellt. Und dann geht es eben so weiter, dass der Anwalt die Fakten und den Stand der Dinge prüft. Sie müssen dazu wissen, dass das Opfer ja keinerlei Auskunft über den Stand der Ermittlungen zu seinem Fall bekommt. Dazu brauchen Sie einen Anwalt. Ein Anwalt ist also unabdingbar, wenn das Opfer nicht total passiv dastehen will. Der Täter aber bekommt automatisch seinen Pflichtverteidiger auf Staatskosten. Also, das ist für mich ein großer Fehler im deutschen Recht, dass das Opfer so benachteiligt wird. Wir haben zwar in einigen schwer wiegenden Fällen, bei Tötungsdelikten und bei Sexualdelikten auch den Opferanwalt – und seit 4. März dieses Jahres gilt das auch für die Hinterbliebenen von Getöteten – aber für alle übrigen schwer Betroffenen, z. B. von schwerer Körperverletzung bis hin zu Geiselnahme und Menschenraub, gibt’s nach wie vor keinen Opferanwalt. Für all das hat der Weiße Ring seit seinem Bestehen gekämpft, ohne wirklichen Erfolg. Wir fordern den Opferanwalt, der Opferanwalt muss her!“, sagt Frau Geis mit Nachdruck.
„Dieses Ungleichgewicht zwischen Opfer und Täter vor Gericht macht mich immer wieder fertig, es geht ja schon damit los, Sie, das Opfer, kommen als ‚Zeuge‘ vor Gericht … Wie ist Ihr Name?! Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass sie jetzt die Wahrheit zu sagen haben und nichts als die Wahrheit … und falls Sie hier die Unwahrheit sagen, können Sie bestraft werden mit dem und dem … Diese Belehrung kriegen Sie! Als Opfer!! Zur Begrüßung vor Gericht !!! Und dann kommt der Täter, besser gesagt, der Beschuldigte, und der kann erzählen, was er will, und sein Anwalt ebenso. So, das ist das Recht, und auf diese schwer verständlichen Dinge müssen Sie dann das Opfer ja auch erst mal vorbereiten. Das ist nur ein Punkt. Ich bin grade neulich dabei gewesen bei der ersten ‚Tagung der Zeugenbetreuer Deutschlands‘ – also wir haben das jetzt auch übernommen. Ich mache Prozessvorbereitung, und Prozessbegleitung, falls gewünscht. In Berlin muss ja das Opfer mindestens ein Jahr lang auf den Prozess warten, das ist eine lange Zeit, und wenn’s dann so weit ist … waren Sie schon mal beim Landgericht?
Das ist für ein Opfer erdrückend, schon vom Optischen her, die einschüchternde Architektur, die hohen alten Räume, und wer weiß denn schon, wo er zu sitzen hat? Das Opfer muss einfach vorher schon wissen, wie geht es vonstatten, und dafür“, Frau Geis holt aus einem Beutel mehrere säulenförmige Holzklötzchen mit Punkt-Komma-Strich-Gesicht hervor und legt sie auf den Tisch. „Hier haben wir den Richter“, sie stellt die Klötzchen auf, „allermeistens sind auch Schöffen dabei, meistens zwei. Das hier ist der Staatsanwalt, der sitzt seitlich – und da habe ich immer ein bisschen ein Erklärungsproblem mit dem Staatsanwalt, denn ich kann nicht sagen, der sitzt immer rechts oder der sitzt immer links – komischerweise liegt sein Platz immer an der Fensterseite. Den Saal muss ich mir also vorher anschauen, damit ich dem Opfer nichts Falsches sage. Und wer könnte wohl das sein?“ Sie zeigt ein etwas kleineres Klötzchen, bei dem die Mundwinkel nach unten zeigen.
„Richtig, das Opfer! Das Opfer sitzt auf der Seite des Staatsanwaltes, daneben der Anwalt. Und wenn Sie also hier als Opfer sitzen, dann ist die Anordnung so, dass Ihnen genau gegenüber der Täter und sein Verteidiger sitzen. Aber in dem Moment, wo Sie zur Aussage direkt vor den Richtertisch treten, da haben Sie den Täter sozusagen im Rücken.
Ich beschreibe das dem Opfer vorher schon, damit es sich nicht so schlecht fühlt, wenn es dasteht und auf diese erhöhte Ballustrade zum Richtertisch schaut, wo unten alles verdeckt ist und oben nur Kopf und Rumpf herausschauen. Und in dieser ganzer Atmosphäre sollen Sie also nach einem Jahr Rede und Antwort stehen, sich an jedes Detail erinnern, dann bekommen Sie vielleicht zu hören“, sie tippt auf das gegnerische Anwaltsklötzchen und sagt in scharfem Tonfall: „Ja hören Sie mal, Sie haben doch in dem Protokoll bei der Polizei ausgesagt, Sie kamen von links, ja wie denn nun! Also, da soll schon mal die Glaubwürdigkeit unterhöhlt werden. Davor warne ich das Opfer schon vorher und sage ihm, der gegnerische Anwalt wird versuchen, den Kübel über Ihnen auszugießen, für seinen Mandanten, erschrecken Sie nicht, das ist üblich. Und noch was ist wichtig, weil das Opfer ja zum Täter ein sehr gespanntes Verhältnis hat, also, wenn Sie noch so empört sind, Sie dürfen keinerlei Zwischenrufe machen, keine Bemerkungen, vor Gericht ist es sehr wichtig, erst dann zu sprechen, wenn man dazu aufgefordert wird. Das und noch viel mehr vermittle ich dem Opfer und mache es ihm dadurch etwas leichter. Der Ordnung halber muss ich sagen, es gibt in Berlin auch noch den ‚Verein Opferhilfe‘, der sich auf Zeugenbetreuung spezialisiert hat, sie haben auch ein Zimmer im Gericht für diesen Zweck, aber bei mir ist der Vorteil, ich kenne das Opfer bereits gut, habe es schon lange vorher betreut, es kennt mich und weiß, dass ich über die Lage der Dinge genau orientiert bin.“
Wir bitten noch mal um ein Beispiel. Sie seufzt und sagt: „Ach, Sie wollen immer Beispiele, mhm … Ich hatte ein Ehepaar. Es wird in seinem kleinen Kiosk mit Lottoladen überfallen. Von zwei Tätern geknebelt, gefesselt mit Klebeband, die Frau wird an den Haaren geschleift, sie werden beide mit dem Pistolenknauf auf den Kopf geschlagen, die Täter fliehen mit dem Geld. Das Ehepaar hatte schreckliche Angst umeinander, beide erlitten körperliche und schwere seelische Schäden. Um dieses Ehepaar habe ich mich also gekümmert, sie bekamen eine Soforthilfe usw., ich habe sie dann auch vorbereitet und zum Prozess begleitet. Und da ist nun Folgendes passiert: Die beiden werden also nacheinander verhört, einzeln vernommen. Meine Opfer machen unter Tränen ihre Aussagen, werden genau befragt, wo lagen Sie, wer gab die Schläge wohin, wie oft … da kommen ja alle Erinnerungen, alle Schrecken wieder hoch. Und an anderer Stelle sagt die gegnerische Anwältin dann über ihren Mandanten: ‚Als er mir die Tat geschildert hat, hat er so geweint!‘ Und obwohl das besprochen war, das Sprechen nur auf Aufforderung, ruft der Ehemann empört aus: ‚Frau Anwältin, haben Sie denn auch unsere Tränen gesehen??!‘ Daraufhin sagte der Richter zum Opfer: ‚Herr Zeuge, wir sind hier nicht bei der Fernsehrichterin Salesch, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann nur wenn Sie aufgerufen werden.‘ Der Täter wird ja von seinem Anwalt auch über die Möglichkeit beraten, das Strafmaß zu senken. Eine dieser Möglichkeiten ist Reue, u. a. auch durch eine Entschuldigung beispielsweise. Ich rede immer vorher mit dem Opfer über diese Möglichkeit. Wer sich darauf nicht einlassen will und kann, dem sage ich, gut, Sie müssen nicht. In dem Fall sagen Sie nicht: Ich nehme die Entschuldigung an, sagen Sie: ‚Ich nehme die Entschuldigung zur Kenntnis.‘ Aber wenn es so unverfroren um die Verminderung des Strafmaßes geht, die tätige Reue nur diesem Zweck dient, wenn’s zu unschönen Szenen kommt, dann können Sie sich meine Empfindungen in solchen Momenten wohl vorstellen.
Aber ich kann nicht mal eine tröstende Geste machen. Ich sitze im Zuschauerraum, nicht beim Opfer. Dafür kämpfen wir, der Weiße Ring, um diesen Platz neben dem Opfer als Person des Vertrauens. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als im Zuschauerraum unbedingt einen Platz zu ergattern – denn manchmal kommen auch ganze Schulklassen – ich bemühe mich um einen Platz, von dem aus ich mit dem Opfer Blickkontakt halten kann. Wenn man sich gut kennt durch die Zeit der Vorbereitung, dann klappt das recht gut, die Verständigung mit den Augen. Na gut, das ist also die Begleitung zu den Gerichtsterminen, bisher war’s mehr so eine Art Händchenhalten, jetzt haben wir diesen menschlichen Beistand auf eine professionellere Stufe gestellt, und um weitere Verbesserungen werden wir kämpfen, wie gesagt. Und ansonsten ist eben mein Steckenpferd, ich habe es anfangs schon erwähnt, die Hilfestellung im Umgang mit den Behörden, Vermittlung mit anderen Organisationen und die Beratung und Hilfe beim Opferentschädigungsgesetz.
In dem Zusammenhang, aber es hat nur indirekt damit zu tun, gibt es noch etwas, wofür wir kämpfen: Für das so genannte Adhäsionsverfahren, also dafür, dass die zivilrechtlichen Ansprüche des Opfers beim Strafprozess gleich mitentschieden werden. Das könnte ja prima in einem Zug geschehen, statt dass das Opfer selbst sich kümmern und seinen Ansprüchen nachrennen muss, wofür sich wieder jemand vollkommen neu in die Akten und Unterlagen einarbeitet. Das Ganze dauert dann noch mal ein Jahr, wenn überhaupt … Also da gibt’s ganz bittere Sachen, von denen wir noch nicht gesprochen haben, von den Ablehnungen. Und da geben wir dann auch Hilfen – wenn ich also mit dem Opfer seinerzeit den Antrag gestellt habe und es bekommt einen ablehnenden Bescheid und das ist vielleicht ein Jahr her, dann muss sich das Opfer bei mir melden, damit wir den Bescheid prüfen lassen und gucken, ob wir ihn vielleicht sozialrechtlich anfechten, bis hin zu einer Klage vor dem Sozialgericht. Zu dieser ‚späteren weitgehenden Hilfe‘ kommt es nur in seltenen Fällen, aber wir sind dafür gewappnet, natürlich. Was ich ganz bewusst ein bisschen verschwiegen habe, sind die ‚Erholungsmaßnahmen für Opfer und ihre Familien‘. Das bekommen wir jetzt nur noch in ganz schwer wiegenden Fällen, bei Sexual- und Tötungsdelikten, bewilligt, dass sich die Opfer mal 14 Tage irgendwo erholen können, etwas Abstand kriegen. In Zeiten des Sparens wird alles schwerer. Auch für den Weißen Ring.
Ich sage es ganz ehrlich, so zwei Jahre ist das jetzt wohl her, da ist diese Gründergeneration uns einfach weggestorben. Wir haben dadurch jetzt ein paar tausend Mitglieder weniger. Das macht sich bemerkbar, auch finanziell. Und dann sind wir auch so ein bisschen in eine Schieflage dadurch geraten, dass die Einkünfte aus den Geldstrafen, die früher uns zugeflossen sind, jetzt in die Justizkassen gehen, in die leeren Landeskassen fließen. Das ist keine direkte Gesetzesänderung, wer die Bußgelder bekommt, das steht im Benehmen des Gerichts. Unsere Einnahmen verringern sich, aber wir lassen nicht nach mit unserer Opferhilfe und engagieren uns auch sehr auf der Seite der Prävention. ‚Gewalt an Schulen‘ ist eines unserer Themen, wir haben z. B. mitgeholfen, dass es jetzt ‚Konfliktlotsen‘ an den Schulen gibt. Das Thema Gewalt bei Jugendlichen ist ja enorm wichtig, und die Gesellschaft muss wesentlich mehr dafür tun, dass es gar nicht erst dazu kommt.
Da kann ich Ihnen zum Schluss noch von einem Fall erzählen, dem Fall eines ‚Nothelfers‘: Jugendliche in der Straßenbahn fangen plötzlich an zu randalieren und aufeinander loszugehen. Das spätere Opfer, ein Mann Mitte oder Ende 40, greift verbal ein – nicht mit bösen Worten, nein, nur beschwichtigend. Und dann hängt sich einer aus der Gruppe in die Haltegriffe oben an der Stange, holt Schwung und tritt den Mann mit beiden Schuhen voll gegen den Kopf. Das Opfer erleidet schwerste Verletzungen, Jochbein und Kiefer sind gebrochen, Zähne gehen verloren, das ganze knöcherne Gerüst ist voller Frakturen. Der Mann lag auf der Intensivstation, hat dann wochenlang seine Zähne verdrahtet gehabt und hatte seinen Geruchs- und Geschmackssinn vollkommen verloren, was enorm schlimm ist für einen Hobbykoch.
Und nun ist es so, dass für solche Opfer, die als ‚Nothelfer‘ dazwischengegangen sind und Schäden erlitten haben, da ist dann auch das Land bzw. die Stadt verantwortlich. Sie haben dann Ansprüche, in dem Fall aus der Unfallkasse Berlin. Die Anträge laufen heute noch, das ist jetzt zwei Jahre her! So ein Dreivierteljahr nach dem Prozess wurde das Opfer, der Mann war auch Gewerkschaftsvertreter, zu einem Empfang beim Regierenden Bürgermeister eingeladen. Und ich habe mich sogar dazwischengedrängelt und wollte auf diesen schleppenden Gang mal aufmerksam machen … Jedenfalls, er wurde da empfangen, und es war alles wunderbar, der Bürgermeister hat den Mann sogar ein bisschen rumgeführt, hat sich lange mit ihm unterhalten, einen Riesenblumenstrauß überreicht, es sollte eine Anerkennung der Zivilcourage sein, aber die Anerkennung der Verletzungen und Schäden durch die Unfallkasse hat nicht stattgefunden!
Ich möchte ja dem Bürgermeister Wowereit jetzt nichts nachsagen, aber er hat sich hier einfach nicht richtig verhalten. Er ist der oberste Dienstherr der Unfallkasse schließlich und hätte sich ja mal erkundigen können, weshalb da Gutachter ohne Ende ranmüssen und die Bürokratie so einen Mann, der sich spontan eingesetzt hat, ewig durch ihre Mühlen dreht. Da hätte er mal Dampf machen können, das wäre für mich eine Anerkennung gewesen. Nach zwei Jahren ist heute immer noch nichts passiert, wie gesagt, die körperlichen Schäden sind ja vielleicht so weit wie möglich verheilt, aber die seelischen Schäden werden natürlich auch nicht grade besser, wenn der Nothelfer damit allein gelassen wird vom Staat. Wir müssen den Opfern beistehen, daran zweifelt ja sicherlich niemand, und das ist es, was wir machen.“