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Archiv-Artikel

Downloading helps music

Auch nach dem Ende der Tonträgerindustrie wird es Musik geben – bessere Musik sogar, glaubt man einer Harvard-Studie, die das Verhalten von Tauschnetz-Teilnehmern beobachtet hat. Die wahren Charts finden sich schon heute auf Internetseiten, die die erfolgreichsten Downloads protokollieren

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Letzten Donnerstag waren gegen Mittag Berliner Ortszeit 98.735 User im Netz von „Gnutella“ online. Sie boten 32 Millionen Dateien im Gesamtumfang von 36 Terabyte zum kostenlosen Herunterladen an. Den größten Anteil nahmen Musikstücke in den Kompressionsformaten von MP3 oder Vorbis („.ogg“) ein. Videos und Software belegten die folgenden Plätze, Texte waren eher selten. Gnutella gilt heute bereits als altmodisches System. „KaZaa“ ist populärer, „BitTorrent“ leistungsfähiger. Dazu kommen die Netzwerke, die unter verschiedenen Namen das ebenfalls schon ältere System von „eDonkey“ nutzen. Sie zeigen regelmäßig über 100.000 Teilnehmer an. Nicht zu vergessen die Gemeinde besonders versierter Nutzer, die auf das verschlüsselte, daher nahezu abhörsichere „Freenet“ schwört.

Zwar sind alle diese Zahlen nicht besonders zuverlässig. Aus technischen Gründen sind etwa bei Systemen wie Gnutella nicht alle tatsächlich zugeschalteten Rechner von jedem Teilnehmer aus sichtbar. Aber ihre Botschaft ist eindeutig: Der kaum kontrollierbare private Austausch von Daten, nicht zuletzt von digitalisierter Musik, ist zum festen Bestand des Internet geworden.

Auch die großen Labels haben diese Botschaft gehört, aber sie haben sie bis heute nicht verstanden. Die 98.735 Teilnehmer des Gnutella-Netzes vom vergangenen Donnerstag, um nur die niedrigste gesicherte Zahl zu nennen, wollen unbedingt das Produkt haben, das sie verkaufen. Sie suchen nach Musik, vor allem nach neuen Stücken, die sie noch nicht kennen, aber auch mal nach alten, um ihre Erinnerungen aufzufrischen, um Versionen zu vergleichen, um ihre Liebhabersammlung zu komplettieren. Sie formulieren mit Bedacht eine Suchanfrage: Nicht an Google, sondern an alle gegenwärtig erreichbaren Netzteilnehmer, in der Hoffnung, auf irgendeiner Festplatte irgendwo auf der Welt eine Datei zu finden, die ungefähr ihren Wünschen entspricht. Dann warten sie mit schier unendlicher Geduld darauf, dass der Tauschpartner die gewünschten Daten tatsächlich überträgt.

Das kann auch mal Tage oder Wochen dauern, denn auf der anderen Seite steht kein professioneller Server eines kommerziellen Unternehmens, der nur dafür programmiert ist, Kunden zu beliefern. Der englische Name „Peer-to-Peer“ ist wörtlich zu nehmen. Tauschnetze sind Netze unter Gleichen. Ein Computer aus dem Kaufhaus nimmt mit einem anderen Computer aus dem Kaufhaus Kontakt auf, beide sind eher schlecht als recht über eine Firma ans Internet angeschlossen, die ihren kleinen Privatkunden nicht immer den zuverlässigsten Zugang verkauft – sie bezahlen auch, wenn die Leitung dauernd zusammenbricht.

Alle 98.735 Teilnehmer des Gnutellanetzes vom vergangenen Donnerstag haben diese Schwierigkeiten auf sich genommen. Die meisten waren auf der Suche nach eben der Musik, die ihnen am Herzen liegt. Nicht alle hatte Erfolg, aber sie alle sind in den Augen der großen Musiklabels nichts weiter als Kriminelle. „Copy kills music“ hieß es einst, als die Popkomm noch in Köln zu Hause war. Ganz so laut ist das Geschrei heute nicht mehr, umso eifriger bearbeitet die Lobby die Berliner Regierung. Im Entwurf zur zweiten Novelle des deutschen Urheberrechts soll nun nicht nur – wie bisher – das Anbieten, sondern schon das Herunterladen von Dateien aus solchen Netzwerken verboten sein.

Nichts könnte dümmer sein, die Musikproduzenten hetzen ihren besten Kunden die Staatsanwälte auf den Hals. Im März dieses Jahres erschien eine Studie der Harvard Business School, die akribisch nachweist, was Kenner der Peer-to-Peer-Subkultur ohnehin schon immer vermutet hatten: Tauschnetze schaffen Nachfrage nach mehr Musik – und vor allem nach besserer Musik. Die Online-Tauschpartner suchen nicht den Superstar aus der Retorte eines Dieter Bohlen oder Lautsprecher-Puppen wie Britney Spears. Die gibt es zwar auch, manchmal schon, bevor der neueste Song im Laden ist. Dass er dort unverkauft liegen bleibt, wundert nach den Ergebnissen der Harvard-Studie nicht im Geringsten. Die Teilnehmer von Tauschnetzen lassen sich nicht mit Massenware abspeisen, für die sie auch noch bezahlen sollen.

Die Harvard-Autoren haben zwei Jahre lang des Verhalten repräsentativer Tauschpartner beobachtet. Auch sie holen sich manchmal Hypes aus dem Radio und Fernsehen ab, aber weit mehr folgen sie den Tipps aus ihrem Bekanntenkreis. Sie sind auf Entdeckungen aus und lassen sich sogar von Titeln überraschen, die ihnen zunächst nur als Name einer Datei präsentiert werden. Umso genauer hören sie zu, wenn die Übertragung gelingt. Sie reden mit Freunden darüber, möchten mehr von dieser Gruppe hören, mehr über sie wissen, möchten ihre Live-Auftritte besuchen – und sind dann auch bereit, Geld für eine CD auszugeben.

Natürlich werden sie eine solche Neuerwerbung voller Stolz wieder ihrem Tauschnetz zur Verfügung stellen. Kostenlos, aber die Produzenten sollten ihnen danken für die kostenlose Werbung, die wirksamer ist als jede Kampagne in den Einbahnmedien. Es ist Werbung Peer-to-Peer, daher glaubwürdig, und dieses Wechselspiel von Neugier, Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und individuell geprägtem Musikgeschmack wird nach allen Regeln der Marktwirtschaft eine insgesamt wachsende, jedoch immer weiter ausdifferenzierte Nachfrage erzeugen.

Nicht mehr Radios und Fernsehsender setzen die Trends, unter www.bigchampagne.com ist schon seit zwei Jahren die täglich aktualisierte Hitliste der wichtigsten Tauschbörsen öffentlich nachzulesen. Musiker, Produzenten und Konzertveranstalter können sich daran kostenlos orientieren, gegen Geld bietet BigChampagne auch detaillierte Erhebungen für professionelle Marktanalysen an.

Schon heute stützt das Forschungsinstitut Forrester Research seine Prognosen für den Musikmarkt hauptsächlich auf diese Daten. Danach werden die Einnahmen aus dem Verkauf von CDs bis zum Jahr 2008 noch einmal um 19 Prozent sinken. Niemand muss darüber trauern. Glücklicherweise geht ein Schwindelgeschäft zu Ende, in dem ein paar eitle Manager alles, Künstler und Publikum gar nichts zu sagen hatten.

Es wird weniger CDs, aber mehr Musik geben: Musik für Leute, die sie wirklich hören wollen, im Netz, und im Konzert, produziert von Musikern, die nicht nur ihren Vertrag mit einem der großen Labels im Kopf haben. Denn damit sich lässt nur noch wenig Geld verdienen. Eintagsfliegen aus dem Tonstudio haben keine Chance. Die Livemusik kehrt zurück. Was allein zählt, sind Konzerte, ob im kleinen Club oder im Sportstadion. Gruppen, die ihr Publikum dort nicht begeistern können, werden nicht überleben, nur gut produzierte und dokumentierte Tonträger der anderen, im harten Test ihrer Konzerte geschulten Künstler werden auch in Zukunft Käufer finden.

Die größten Chancen auf diesem neuen Markt werden Labels haben, die ihre Künstler über Jahre hinweg begleiten, und erst dann nervös werden, wenn ihre Stücke noch nie in einem Tauschnetz aufgetaucht sind. Sie werden dankbar sein für jeden Download und nicht im Traum auf die Idee kommen, dafür auch noch Geld zu verlangen – oder gar nach dem Staatsanwalt zu rufen.