: Die Probegeiseln von Wildflecken
AUS WILDFLECKEN TOBIAS VON HEYMANN
In Bayern herrscht Krieg: Das unterfränkische Örtchen Wildflecken ist zur UN-Schutzzone erklärt. Trotzdem steht ein Angriff des „Kommando Greif“ von Milizen-General Michael Pallhuber auf die muslimische Enklave kurz bevor. Dass es der skrupellose Warlord ernst meint, ist den UN durchaus bewusst. Sieben Massengräber haben die Blauhelme in der Region bereits gefunden, mit tausenden von Toten. Ganze Dörfer sind auf der Flucht …
Alles nur ein fiktives Szenario. Doch eins, das sich in den kommenden fünf Tagen äußerst realistisch abspielen wird. Tatort: das über 7.000 Hektar große Übungsgelände „Wildflecken“ der Bundeswehr. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) hat die Truppe einen fünftägigen Pilot-Lehrgang entwickelt. Neun Journalisten sollen dabei erstmals überhaupt auch auf den Ernstfall einer Geiselnahme vorbereitet werden. In der „freilaufenden Übung“ – rund um die Uhr und im Gelände – sollen sie mehr über die Gefahren in Kriegsgebieten lernen. Über 100 Soldaten sind dafür als Rollenspieler in die Haut von Milizionären, Bürgermeistern, Hotelangestellten oder UN-Offizieren geschlüpft. Und wirken darin beachtlich professionell.
Reporter im Fadenkreuz
„Immer öfter geraten Auslandsreporter ins Fadenkreuz. Der Irak ist das beste Beispiel dafür. Auf dem Kurs können sie nun in einem geschützten Umfeld Grenzen ertasten und Verhalten üben, das ihr Leben schonen kann und Zeit gewinnen lässt“, umreißt Franz-Josef Hutsch das Ziel des Kurses. Monatelang hat der Krisenreporter mit Experten der Bundeswehr an der Übungs-Story gefeilt. Kriegserfahrungen von Bosnien bis Afrika wurden eingebracht.
Anhand eines Infopakets voller erdachter Reportagen, Agenturmeldungen und eigens gedrehter TV-Berichte müssen sich die Teilnehmer in diese Übe-Welt dann selbst einarbeiten. Sogar ARD-Veteran Friedhelm Brebeck spielt in einigen Videos mit – als er selbst.
Der erste Abend beginnt freundlich. „Hallo, willkommen! Kommen Sie rein. Ich bin Ali, brauchen Sie Zimmer? Ali hat alles“, sprudelt es aus dem Hotel-Chef bei der Ankunft der Reporter. Hotel ist gut: Eine einfache, sparsam eingerichtete Holzbaracke, das ist alles. Mit mehreren tausend Euro Spielgeld in der Hand müssen sie jetzt Zimmerpreise aushandeln und ortskundige Fahrer samt Wagen anheuern. Und vorher noch Material studieren.
Der Recherche-Auftrag lautet: Ein Foto von Michael Pallhuber beschaffen. Denn niemand weiß, wie der Milizen-General aussieht. Kein Fotograf konnte ihn bislang porträtieren, er ist ein Mann ohne Gesicht. Doch nicht nur das: Der Nationalistenführer Andreas Hofer soll politisch hinter ihm stehen – und für die Macht in ganz Bayern geht der ebenfalls über Leichen. Früher soll er sich „Hans Müller“ genannt und die „Greif“-Truppe sogar selbst angeführt haben. Doch auch das sind bislang nichts als unbewiesene Gerüchte. Die Reporter sollen den Nachweis erbringen – mit Interviews und Dokumenten, mitten im Kriegsgebiet.
Bevor es ins Gelände geht, testen Bundeswehrexperten noch einmal das Wissen der Journalisten in Minenkunde, erster Hilfe und dem Umgang mit Karte und Kompass. Mit der Analyse echter Geiselnahmen werden sie vorab zumindest theoretisch in das sensible Thema eingeführt – und in das, was ihnen bevorsteht.
„Ich sehe das hier als eine Investition in mein Leben“, sagt Ludger Smolka, der anderthalb Jahre in Angola als Journalist gearbeitet hat. Einer seiner Kollegen musste im Kongo schon einmal eine echte Geiselhaft durchleben. Was das Ziel des Kurses angeht, macht sich Smolka deshalb auch keine Illusionen: „Vielleicht ist meine Chance zu überleben ein bisschen höher, wenn ich weiß, wie ich mich sicherer verhalten kann.“
Die Reporter bilden vier Teams und tauchen ins Szenario ab. Doch schon ein paar Feldwege vom Hotel entfernt fliegt ihr „Taxi“ auf: ein illegaler Checkpoint. „Alle aussteigen“, ruft einer der schlecht gelaunten Milizionäre und zielt mit seiner Kalaschnikow auf die verunsicherten Insassen. „Habt ihr Handys, Uhren?“ Alles Wertvolle wechselt den Besitzer. Nur ein Anruf im Hotel ist erlaubt, Kollegen müssen Geld zum Auslösen herbeischaffen.
Milizen-General im Interview
Später geraten die Journalisten in einen heftigen Häuser- und Straßenkampf: Scharfschützen feuern von allen Seiten, Handgranaten fliegen, Autowracks qualmen. Binnen Sekunden flüchten die Teams in alle Richtungen. Erst als ein UN-Schützenpanzer Warnschüsse abgibt, beruhigt sich die Lage. Doch auch ihrem Ziel kommen die Reporter immer näher: Endlich lässt sich ein Interview mit Milizen-General Pallhuber an einem geheimen Ort einfädeln. Er lässt sich sogar ablichten: Der Fotograf José Giribas hat ihn mit viel Geduld überredet. Was aber droht, wenn der General misstrauisch wird?
„An dieser Übung finde ich sehr wichtig, dass nicht um 18 Uhr Feierabend ist. Dauernd hoher Stress, jeden Augenblick kann etwas passieren“, sagt Giribas. Als er vor vielen Jahren in Ruanda arbeitete, sei er noch recht ahnungslos gewesen. „Da hätte ich das Wissen von heute haben sollen.“ Unterdessen steigt die Nervosität: Alle wissen, dass ihnen ständig die Geiselnahme droht. Nur wann, wie, wo?
Das Kidnapping hat den Planern im Vorfeld das meiste Kopfzerbrechen bereitet. Einerseits soll alles so echt wie nur irgend möglich wirken, um auch tatsächlich einen Lerneffekt zu erzielen. Andererseits darf die Geiselnahme den Rahmen der Simulation nicht sprengen. Niemand darf Schaden nehmen.
Abends auf einer Fahrt durch den Wald fallen dann plötzlich Schüsse. „Weg hier!“, ruft einer der Reporter noch, doch da ist es schon zu spät: Schwarz Maskierte mit Kalaschnikows im Anschlag blockieren den Weg, zerren drei Reporter ruppig aus dem Auto. Was folgt, ist eine lange Nacht in der Gewalt der Kampfgruppe von Pallhuber und Hofer. Aus deren Sicht wissen die Reporter zu viel, statt Positiv-Geschichten drohen gefährliche Skandale – die Journalisten werden zu Feinden: In der Hand der Geiselnehmer erleben sie nun Willkür, Demütigung und Angst – 14 Stunden lang.
Die einen müssen pausenlos Briketts neu stapeln, weil der Anführer sie immer wieder umtritt. Andere werden gezwungen, wie Esel stundenlang an einem Balken im Kreis um einen Ziehbrunnen zu laufen. Ein weiterer muss singen und dabei auf ein Ölfass trommeln: „Lauter, lauter, wird’s bald!“, brüllt einer der Geiselnehmer. Dazwischen immer wieder „Einzelverhöre“: Schreie dröhnen aus einem Haus in der Nähe. Die Kidnapper erhöhen den Druck: „Wir wissen alles, wenn du jetzt lügst, bist du dran.“ Wenn das nicht hilft, muss der Gefangene mitansehen, wie ein Kollege dafür büßt.
Das alles wird sehr realistisch „gespielt“. Natürlich wird niemand wirklich geschlagen. Nichts Schlimmes passiert, doch unter Stress wirkt eben auch eine Übung brutal. Und genau diese mentalen Mechanismen will der Lehrgang vermitteln – und wie man sie zum Eigenschutz durchschaut. Wem das alles doch zu nahe geht, muss nur „Exit“ rufen – sofort ist für ihn alles vorbei, die Psychologen kommen. Die übrigen Kollegen kommen aber erst am nächsten Morgen frei, nach langen Verhandlungen mit der UNO.
Psychologen im Hintergrund
Doch der Lehrgang ist noch nicht zu Ende. Fast so wichtig wie das gespielte Geiseldrama ist das so genannte Debriefing – die nachträgliche Auswertung. Psychologen und Experten haben das Geschehen die ganze Zeit verdeckt beobachtet. So können im Anschluss „Opfer“, „Täter“ und Spezialisten gemeinsam Schritt für Schritt die einzelnen Phasen des Kidnappings auch in Einzelgesprächen analysieren. Keine Frage bleibt offen, die psychologischen Fallen der Entführer und deren Kalkül klären sich auf und jeder Reporter hat wohl mehr gelernt als nur die „basics“:
Dass bei einer Entführung die ersten Minuten enscheiden, weil da auch die Geiselnehmer selbst nervös sind. Dass man besser die Ruhe bewahrt und tut, was von einem verlangt wird, wenn keine Möglichkeit zur Flucht besteht. Dass man Kidnapper auf keinen Fall provozieren dürfe, Blickkontakt vermeidet, aber keine Angst zeigt und bei Verhören besser nicht erst lügt. Wenn es herauskommt, droht meist mehr Gefahr, als wenn man zumindest das Nötigste sagt. Vor allem sollte man darauf achten, dass irgendjemand immer weiß, wo man gerade steckt.
„Ich hätte mir immer sagen können, das ist alles nur ein Spiel“, sagt ein Teilnehmer am Ende der Runde. „Doch das hätte mir nichts gebracht.“ Und so nimmt er neben seinen Erfahrungen als Geisel auf Probe noch ein ganz anderes Fazit mit nach Hause: „Ich glaube, ich werde in solchen Regionen nicht arbeiten wollen. Rein präventiv.“