: „Die Europäer leiden an einem Unterlegenheitskomplex“, sagt Jeremy Rifkin
Europa steigt langsam zur neuen Supermacht auf, während der amerikanische Traum bald vergangen sein wird
taz: Mr. Rifkin, Sie verkünden das Ende des „amerikanischen Traums“ und prophezeien, dass Europa die Zukunft gehört. Das wird weder in USA noch in Europa viele Menschen überzeugen.
Jeremy Rifkin: Wenn man die Europäer nach dem „amerikanischen Traum“ befragt, wissen sie genau, was gemeint ist. Fragt man nach dem „europäischen Traum“, ist die Antwort Schweigen. Aber ich glaube, dass sich ein europäischer Traum entwickelt, der dem amerikanischen Traum entgegengesetzt ist.
Was ist denn der „amerikanische Traum“ für Amerikaner?
Kurz gesagt: „Woher du kommst, ist unwichtig, du kannst als Individuum Erfolg haben.“ Gemeint ist meist materieller Erfolg. Der Traum ist robust. Viele Generationen lang waren die USA eine Aufsteigergesellschaft. Erst mit den Siebzigerjahren hat sich das geändert. Die Gesellschaft ist undurchlässiger geworden. Vor 25 Jahren waren wir eines der egalitären Länder der industrialisierten Welt, heute sind wir eines der Länder mit der größten Ungleichheit.
Und was halten US-Bürger von Europa?
Sie denken an ein schönes Urlaubsziel und ansonsten an wirtschaftliche Ineffizienz, eine alternde Bevölkerung, wuchernde Bürokratien, überbordende Wohlfahrtsstaaten.
Das unterscheidet sich nicht von dem, was viele Europäer denken.
Ja, klar. Darum sage ich auch: Die Europäer meinen, dass die Amerikaner einen Überlegenheitskomplex haben. Was sie aber nicht sehen: Sie selbst leiden an einen Unterlegenheitskomplex. Ihr Europäer seht Amerika als eine grandiose Erfolgsgeschichte – besonders in wirtschaftlicher Hinsicht – und Europa als gescheitertes Experiment.
Ganz so extrem ist es nicht. Aber für Sie scheint Europa das neue Paradies zu sein. Das ist doch genauso holzschnittartig.
Bleiben wir bei den Fakten: Die EU umfasst 450 Millionen Menschen, aus 25 Ländern. Das ist nicht bloß ein wirtschaftlicher Fakt, sondern ein politisch unerhörter Prozess des Zusammenschlusses. Die EU ist die größte Volkswirtschaft der Welt – um 100 Milliarden Dollar stärker als die USA. Die EU ist die größte Exportmacht der Welt. Sie hat den größten internen Markt. 61 der 150 größten Unternehmen kommen aus Europa, aus den USA nur 50. Die wichtigsten Banken kommen aus Europa. Es dominiert die Luftfahrt- und die Chemieindustrie. Klar, die USA dominieren in anderen Bereichen, aber es stimmt einfach nicht, dass Europa es mit den USA nicht aufnehmen kann.
Und was hat das mit einem „europäischen Traum“ zu tun?
Den gibt es, und auch ich habe lange gebraucht, um festzustellen, dass es sich dabei um mehr als nur unterschiedliche Lebensstile handelt. Wir fühlen und denken anders. Wenn wir Amerikaner Freiheit sagen, meinen mir Autonomie und Mobilität. Im Amerika konntest du dich schon früher auf niemand verlassen. In Europa war das ganz anders. In den dicht besiedelten Regionen und Städten wäre die Idee, der Einzelne könne von anderen gänzlich unabhängig sein, völlig verrückt gewesen. In Amerika war die Anhäufung individuellen Reichtums das Versprechen, während für die Europäer mehr die Lebensqualität zählt. Für Amerikaner ist der Begriff „quality of life“ völlig ungebräuchlich. Die Amerikaner halten Bürger- und Eigentumsrechte hoch, die Europäer legen auf soziale Rechte, wie allgemeine Gesundheitsvorsorge, ebensolchen Wert.
Ist ein offenkundiger Unterschied nicht die verschieden ausgeprägte Religiosität?
Sicher, 50 Prozent der Amerikaner glauben an die buchstäbliche Wahrheit der Bibel. Europa ist dagegen sehr säkular geworden, und die Europäer mögen ihre Länder auch lieben, aber ihre Identitäten sind komplexer, von Region, Nation und Europa bestimmt. Der amerikanische Traum ist assimilatorisch, der europäische von Vielheit, von Diversivität bestimmt. Und zuletzt: die Europäer sind, eine Erfahrung kriegerischer Jahrhunderte, friedliebend geworden.
Klingt ziemlich paradiesisch …
Ich sage nicht, dass das schon die europäische Realität ist. Es gibt Fremdenfeindlichkeit und Antieuropäertum, ich weiß das auch. Aber es ist die Vision des europäischen Einigungsprozesses. Wann immer ich mit Europäern rede, sie sind sich alle einig: Ja, so wünschen wir uns Europa.
Viele europäische Politiker sagen: Wir müssen im Gesundheitswesen, bei Sozialfürsorge und Arbeitslosen sparen, also amerikanischer werden.
Dann sollten sie vielleicht einen Blick auf die Statistiken werfen, bevor sie einen Fehler machen: Bei der Lebenserwartung liegen die bisherigen EU-15 ein Jahr voran. Bei der Kindersterblichkeit liegen die USA weit zurück, die ist nur in ein paar Entwicklungsländern höher. Amerika ist eines der gefährlichsten Länder der Welt. 25 Prozent der Häftlinge dieser Welt sitzen in amerikanischen Gefängnissen. Und: Wir haben den Boom der späten Neunzigerjahre auf Pump finanziert und auch die Erholung der Wirtschaft nach der jüngsten Rezession. Also, eine wirklich überzeugende Erfolgsgeschichte ist die US-Wirtschaft gerade nicht.
INTERVIEW: ROBERT MISIK