: „Alii“ auf dem flüssigen Kontinent
Der Inselarchipel Palau mit seinen 320 Inseln lud zum „Festival of Pacific Arts“ und gekommen sind Delegationen aus 22 der 27 Pazifikstaaten: Damit die Kenntnisse der Kanubaumeister, der Flechter, der Weber, der Tätowierer nicht vergessen werden
VON JULIA RATZMANN
„Go, go, go“ – so tönt es am letzten Tag des pazifischen Kunstfestivals in Koror, der Hauptstadt der Inselrepublik Palau. Zwei Teams sind angetreten zum Rennen der Kriegskanus über die 1.000-Meter-Distanz. Die gedrungenen Männer der polynesischen Cook-Inseln kümmern sich wenig um die Zuschauer, die im Zieleinlauf am Ufer des Pazifischen Ozeans stehen und ihre Anfeuerungsrufe mehrsprachig in den gleißend blauen Himmel über der tropischen Südseeinsel schreien. Die Männer der Cooks, wie die Cook- Insulaner von ihren Nachbarn liebevoll genannt werden, paddeln, was das Zeug hält, um den Gegner, die 15-köpfige Mannschaft aus den Föderierten Staaten von Mikronesien, zu schlagen. Sieben Mann sitzen auf jeder Seite des Kanus, im Bug der Schlagmann. Die Sonne brennt mit 33 Grad, Gischt schäumt, das Ziel ist in Sicht und die in ihrer Nationalfarbe rot geschmückten Männer geben noch mal so richtig Gas. Keine Chance also für die zarten Männer aus den Föderierten Staaten von Mikronesien im westlichen Pazifik. Zu stark sind die körperlichen Unterschiede zwischen den kräftigen Polynesiern aus dem mittleren Pazifik und den zierlichen Männern aus dem Westen.
Die Palauaner, Gastgeber des neunten pazifischen Kunst- und Kulturfestivals, hätten ihren direkten Nachbarn gerne den Sieg gegönnt, doch das Trommelkonzert, mit dem die am Ufer applaudierenden Cooks ihr Team begrüßen, tröstet über die Niederlage der Föderierten Staaten hinweg. „Alii“ heißt es dann auch gleichermaßen freundlich zu Siegern und Verlierern. „Alii“ ist Palauanisch und bedeutet „Herzlich willkommen“. Es ist ein Wort, dass jeder der 4.500 Besucher des zehntägigen Festivals in diesem Juli lernt, obwohl Palauanisch eine ganz spezielle Pazifiksprache ist, die mit keiner anderen Südseesprache verwandt ist.
Der Inselarchipel Palau mit seinen 320 Inseln (darunter nur sechs bewohnte) hat zum „Festival of Pacific Arts“ geladen und gekommen sind Delegationen aus 22 der 27 Pazifikstaaten. Alle vier Jahre treffen sich die „Pazifikinsulaner“, wie sich die sieben Millionen Menschen in der Region Ozeanien nennen, zum Festival. „Flüssiger Kontinent“ ist eine passende Beschreibung für die 30 Millionen Quadratkilometer große Wasserfläche. Zwar bedeckt der Pazifik zwei Drittel unserer Erdoberfläche, doch kennen die Menschen in Europa nur wenige Pazifikstaaten dem Namen nach. Bekannt sind Fidschi oder Tonga, weil der übergewichtige tonganische König Mitte der 80er-Jahre Deutschland besuchte. Von Palau hat kaum jemand gehört, obwohl die seit 1994 unabhängige Republik einmal die deutsche Kolonie „Belau“ war. Deutschland war von 1899 bis 1914 Kolonialherr auf den Inseln östlich der Philippinen. Geblieben sind aus dieser Zeit nur einige Namen, wie das Restaurant „Krämer’s“, Erinnerung an den deutschen Ethnologen Augustin Krämer, dessen fünfbändige Palau-Bücher von 1910 noch heute zur Standardliteratur der Schulkinder gehören.
Alle vier Jahre richtet die Pazifische Gemeinschaft, eine Art Europäischer Union, seit 1972 ein Festival aus. „Revitalisierung“ ist das Zauberwort einer modernen Generation von Pazifikinsulanern. Die Kenntnisse der Kanubaumeister, der Flechter, der Weber, der Tätowierer, der Matten-Knüpfer, der Kokosnuss-Erntehelfer, der Schnitzkünstler sowie der Tänzer und Musiker sollen nicht verloren gehen. So sieht es auch das Festivalmotto Die Pazifikstaaten haben Delegationen mit Tänzern, Musikern, Sängern und Handwerkskünstlern entsandt.
Der Marktplatz im Zentrum der Kleinstadt Koror wurde zu einem Dorfplatz mit Strohhütten. In jeder Hütte präsentiert ein Land in einer Art „Open-Air-Messe“ seine Handwerkskunst. Da gibt es fidschianische tapa-Matten, also aus dem Bast des Papiermaulbeerbaumes hergestellte und bedruckte Sitzmatten, handgeflochtene Einkaufstaschen (bilums) aus Papua-Neuguinea, geschnitzte Holzmasken aus Vanuatu, Blütenkränze (lei) von den Cook-Inseln, tahitianische Büstenhalter aus Kokosnussschalen und aus Palmblättern geflochtene Sonnenhüte aus Guam. Frauen und Männer flechten, weben, malen und tätowieren unter den Augen der Besucher. Der Geruch kalter Asche, die vom Tätowiermeister aus Samoa mit Instrumenten aus Stahl rhythmisch in nacktes Fleisch geschlagen wird, mischt sich mit dem Duft des Zitronenmelissetees aus Kosrae und des Zuckerrohrschnapses aus Fidschi. Köche bereiten traditionelle Speisen, etwa in Kokosmilch gegarte Hühnerschenkel oder in Bananenblätter eingewickelte Süßkartoffeln.
Solch exotische Speisen schmecken nicht nur den 2.500 Delegationsteilnehmern aus dem Pazifik, sondern auch den rund 2.000 auswärtigen Gästen aus aller Welt. Überall im Pazifik steht das gemeinsame Essen ganz oben in der Tradition. Viele meinen es heute jedoch zu gut, geben sich modern und ernähren sich mit amerikanischem Fastfood. Der Pazifik hat weltweit die höchste Diabetes-Rate, in einigen Ländern sind mehr als 80 Prozent der Menschen übergewichtig. Ein Workshop zu ausgewogener Ernährung mit der traditionell gesunden Südseekost (Fisch, wenig Fleisch, viel Gemüse) ist ein echter Beitrag zur Volkskultur.
Workshops werden auch in allen Kultur- und Handwerkstechniken angeboten und die Delegationsteilnehmer machen eifrig davon Gebrauch. Auch Touristen bemühen sich ums Mitmachen, ganz vorneweg die Japaner, deren größte Freude darin besteht, sich gegenseitig mit ihren selbst geflochtenen Sonnenhüten aus Guam und ihren Fächern aus Fidschi zu fotografieren. Dazu trägt man stilecht den laplap, das traditionelle bunte Wickeltuch des Pazifiks.
Highlight des Festivals sind die Tanzdarbietungen auf zwei Bühnen, die wegen Platzmangels in der Hauptstadt, die nicht viel größer als ein deutsches Dorf ist, auf die Sportplätze verlegt wurden. Auf den Holztribünen, die wenig Schutz vor den tropischen Regenschauern bieten, tanzen und singen die Delegationen inbrünstig. „Ich bin stolz, mein Land hier vertreten zu dürfen“, erklärt Moana von den Cook-Inseln, die ihre hüftlangen schwarzen Haare offen trägt und ihren Bastrock mehrfach zurechtzupfen muss, damit er im Eifer des Gefechts nicht verloren geht. „Wir haben uns zwei Jahre lang auf dieses Festival vorbereitet“, meint Ann-Mary aus Badeldaob, einer der 16 Bundesstaaten der Republik Palau. „Wir wollen unseren Nachbarn zeigen, wie wir tanzen. Unsere Tänze dürfen nicht verloren gehen.“
Verloren gegangen ist einiges an traditioneller Kultur schon nach der Ankunft der ersten Missionare im 18. Jahrhundert. Vor allem die Polynesier, allen voran Tahiti und die Cook-Inseln – die „Inseln der schnellen Hüften“ wegen der Geschwindigkeit, mit der Frauen ihre Hüften kreisen lassen – haben viel zugunsten eines konservativen christlichen Menschenbildes aufgeben müssen. In sackartige Kleider gesteckt, zum Näh- und Kochkurs nach europäischem Vorbild verdonnert, wurde den Frauen damals das Tanzen verboten. Zu aufreizend, zu „heidnisch“ waren die Hüftbewegungen. Heute sind 90 Prozent der Pazifikbewohner Christen, zumindest auf dem Papier. Mit ihrem kolonial-christlichen Erbe kokettierten einige Pazifikinsulaner ganz bewusst, vielleicht als Seitenhieb auf die anwesenden Europäer, aus deren Ländern die Missionare kamen? Die Schauspieler aus Fidschi beispielsweise, im Volksmund früher „Kannibaleninsel“ genannt, stecken in ihrer Theateraufführung einen Missionar in den Kochtopf und rühren die Suppe fleißig um.
Die Männer aus Papua-Neuguinea machen ihrem Image als Krieger alle Ehre. Speere und Schilde schwingend, tanzen sie kreischend um ein imaginäres Lagerfeuer, schütteln ihren Federschmuck und recken dem Publikum die Fäuste entgegen – beobachtet von einem weiß angemalten Neuguineer mit Ray-Ban-Sonnenbrille, Marlboro-Zigarette und Einwegkamera. Ein sarkastischer Hinweis auf die Pauschaltouristen, die jährlich zu den großen Stammesfesten ins Hochland Neuguineas reisen.
Doch von wegen Sommer, Sonne, Hulatanz und edle Wilde – das in Tourismusprospekten genährte Bild einer paradiesischen Südseewelt hält der Realitäten pazifischen Lebens nicht stand: gesundheitliche Spätfolgen der Atomtestversuche, Verlust an fruchtbarem Boden durch den Meeresspiegelanstieg, ein drastischer Zuwachs von Aids/HIV, illegaler Raubbau an den Regenwäldern, Entsorgung von nichtrecycelbarem Müll auf den niedrig gelegenen Atollinseln. Diese brennenden Probleme haben das „Pazifikparadies“ längst entmystifiziert. Doch ein wenig näher dran am Paradies ist man schon an diesem Tag am Ufer des „friedlichen Meeres“ (mare pacificum), als das Kriegskanu der Cooks über die Ziellinie schießt und die Pazifikinsulaner vor Freude spontan den Hula tanzen.